Leitsatz
1. Eindeutigen Steuererklärungen braucht das FA nicht mit Misstrauen zu begegnen, es kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen. Dies gilt auch, wenn ein nichtselbstständig tätiger Steuerpflichtiger unter Vorlage der entsprechend ausgefüllten Lohnsteuerkarte eine tarifbegünstigte Entschädigung (§ 24 Nr. 1, § 34 Abs. 1, 2 EStG) erklärt und an der Erstellung der Steuererklärung kein Angehöriger eines steuerberatenden Berufs mitgewirkt hat.
2. Meldet ein Steuerpflichtiger nach Bestandskraft eines Einkommensteuerbescheids bislang nicht erklärte Einkünfte nach, ist das FA vor einer Änderung eines nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a oder § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO grundsätzlich nicht verpflichtet, die Veranlagung in vollem Umfang erneut zu überprüfen.
Normenkette
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Der Kläger veräußerte im Streitjahr 1990 80% seiner Gesellschaftsanteile an einer GmbH. Zugleich wurde seine Anstellung als Geschäftsführer der GmbH beendet und die für seine Pensionsrücklage gebildete Rückstellung aufgelöst. Als Ausgleich dafür erhielt der Kläger von der GmbH eine Abfindung.
In der von ihm selbst erstellten Einkommensteuererklärung führte der Kläger eine ermäßigt zu besteuernde Entschädigung und die hierfür einbehaltene Lohnsteuer auf. Die Angaben stimmten mit der beigefügten Lohnsteuerkarte überein. Angaben zur Veräußerung der Gesellschaftsanteile machte der Kläger nicht.
Das FA führte mit Bescheid vom 15.4.1992 die Veranlagung erklärungsgemäß durch. Am 17.7.1992 änderte es diesen Bescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und erfasste den Veräußerungsgewinn nach § 17 EStG. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das FA den Bescheid vom 17.7.1992 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, wobei es die Anrechnung einer Rückdeckungsversicherung auf die vereinbarte Abfindung als verdeckte Gewinnausschüttung ansah.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG ging davon aus, dass das FA seine Ermittlungspflicht verletzt habe und deshalb eine Änderung des Bescheids gegen Treu und Glauben verstoßen würde.
Entscheidung
Der BFH hob das finanzgerichtliche Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass Treu und Glauben stets einer Änderung entgegenstünden, wenn das FA bei einer erklärten "Entschädigung" nicht die zugrunde liegenden Vereinbarungen angefordert habe. Allerdings reichten die tatsächlichen Feststellungen nicht aus, um abschließend darüber zu befinden, ob das FA zu einer Änderung befugt war.
Hinweis
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Änderung eines Bescheids nach § 173 AO wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen auf Grund von Treu und Glauben dann ausgeschlossen, wenn die Tatsachen dem FA bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wären. Dabei braucht das FA eindeutigen Steuererklärungen nicht mit Misstrauen zu begegnen – auch nicht, wenn die Erklärung ohne Steuerberater erstellt worden ist. Nur wenn sich Unklarheiten und Zweifelsfragen aufdrängen, ist das FA zu weiteren Ermittlungen verpflichtet. Haben sowohl das FA als auch der Steuerpflichtige versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, darf der Bescheid in der Regel geändert werden.
2. Im Besprechungsfall ist zu unterscheiden zwischen der Ermittlungspflicht des FA beim Erlass des Erstbescheids und beim Erlass des Änderungsbescheids.
Beim Erlass des Erstbescheids hatte das FA keinen Anlass für Ermittlungen, weil die Steuererklärung eindeutig war und die darin gemachten Angaben mit der Lohnsteuerkarte übereinstimmten.
Als es danach von der Veräußerung der GmbH-Anteile erfahren und daraufhin den Änderungsbescheid erlassen hat, hätte es aber möglicherweise erkennen können, dass ein Zusammenhang bestand zwischen der Veräußerung und der Auflösung des Dienstverhältnisses als Geschäftsführer der GmbH, die zur Zahlung der Entschädigung (Abfindung) geführt hatte. Ob der Zusammenhang für das FA erkennbar war, hängt davon ab, welche Unterlagen ihm im Zusammenhang mit der Änderung vorgelegt worden sind. Nachdem insoweit aber keine Feststellungen durch das FG getroffen worden sind, musste der BFH die Sache zurückverweisen.
3. Im Rahmen der Zurückverweisung weist der BFH auf einen vergleichbaren Fall hin, in dem er eine Änderung durch das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO deshalb abgelehnt hatte, weil das FA aus den vorgelegten Verträgen über einen Anteilsverkauf den Zusammenhang mit der Abfindung hätte erkennen müssen (vgl. BFH, Urteil vom 3.7.2002, XI R 17/01, BFH/NV 2003, 137). Das FG wird deshalb im vorliegenden Fall zu überprüfen haben, ob der Kläger den Anteilskauf- und Übertragungsvertrag vorgelegt hatte. Sollte das der Fall sein und ist aus dem Vertragswerk ersichtlich, dass auch eine Abfindungsvereinbarung getroffen wurde, wäre auch hier eine Änderung nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 7.7.2004, XI R 10/03