Leitsatz
1. Wird ein Unternehmen i.S.d. § 75 AO von mehreren Personen zu Miteigentum nach Bruchteilen erworben, so haften sie aufgrund der gemeinsamen Tatbestandsverwirklichung als Gesamtschuldner.
2. Der Haftungsschuldner kann Einwendungen nicht nur gegen die Haftungsschuld, sondern auch gegen die Steuerschuld erheben, für die er als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird, soweit nicht die Voraussetzungen des § 166 AO erfüllt sind.
Normenkette
§ 75, § 44, § 45, § 166, § 191 Abs. 1 S. 1 AO, § 1008 BGB, § 2 Abs. 1 UStG
Sachverhalt
Der Kläger erwarb durch Kaufvertrag vom 25.02.1999 Miteigentum zu 4/10 an einem mit einer Produktionshalle bebauten Grundstück. Veräußerer war eine – durch ihren Liquidator vertretene – GmbH, deren Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens zuvor abgelehnt worden war. Die GmbH hatte die Produktionshalle ab Dezember 1997 an X vermietet. Die Bruchteilsgemeinschaft vermietete das Grundstück rückwirkend zum 25.02.1999 an Y.
Das FA erließ gegenüber dem Kläger und den beiden anderen Miteigentümern wegen rückständiger USt der GmbH gleichlautende Haftungsbescheide, die auf § 75 AO gestützt waren.
Das FG München wies die Klage ab. Es war der Auffassung, die Einwendungen des Klägers gegen die gegenüber der GmbH bestandskräftig festgesetzte USt seien nicht zu berücksichtigen (FG München, Urteil vom 09.11.2006, 14 K 4206/04, Haufe-Index 1834103).
Entscheidung
Die Revision des Klägers führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung an das FG.
Der BFH teilte die Ansicht des FG, dass der Kläger Erwerber i.S.d. § 75 AO sei. Es gab dem FG jedoch auf, sich im zweiten Rechtsgang mit den Einwendungen des Klägers gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung gegenüber der GmbH auseinanderzusetzen. Die Gründe ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen.
Hinweis
1. Der Unternehmensbegriff des § 75 AO entspricht dem des § 2 Abs. 1 UStG. Deshalb ist Unternehmen i.S.d. § 75 AO auch ein vermietetes oder verpachtetes Grundstück (vgl. BFH, Urteil vom 10.12. 1992, V R 90/92, BFH/NV 1994, 200).
2. Kann das erworbene Unternehmen ohne nennenswerte Investitionen fortgeführt werden, ist die Haftung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn zuvor der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Veräußerers mangels Masse abgelehnt wurde (BFH, Urteil vom 22.09.1992, VII R 74/91, BFH/NV 1993, 215).
3. Erwerber i.S.d. § 75 AO kann auch sein, wer nur Bruchteilseigentum (§ 1008 BGB) an dem Unternehmen erworben hat. In diesem Fall wird der Tatbestand des Erwerbs i.S.d. § 75 AO von den Käufern gemeinsam erfüllt. Sie haften daher als Gesamtschuldner i.S.d. § 44 AO.
Denn eine Gesamtschuld kann durch gemeinsame Tatbestandsverwirklichung begründet werden, auch wenn dies im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. BFH, Urteil vom 21.06.1995, II R 7/91, BFH/NV 1996, 71).
Nach § 38 AO entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört gem. § 37 Abs. 1 AO nicht nur der Steueranspruch, sondern auch der Haftungsanspruch. Deshalb haften Personen, die einen gesetzlichen Haftungstatbestand (hier: § 75 AO) gemeinsam verwirklicht haben, als Gesamtschuldner.
4. Ein Haftungsschuldner kann Einwendungen nicht nur gegen die Haftungsschuld, sondern grundsätzlich auch gegen die Steuerschuld erheben, für die er als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 13.01.2005, V R 44/03, BFH/NV 2005, 998, unter II.2.c.cc, m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 29.11.1996, 2 BvR 1157/93, Haufe-Index 1003468, BStBl II 1997, 415).
Ausnahmsweise gilt nach § 166 AO bei einer unanfechtbar festgesetzten Steuerschuld etwas anderes, wenn der Haftungsschuldner Gesamtrechtsnachfolger ist oder den Bescheid als Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts hätte anfechten können.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.01.2011 – XI R 11/08