Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundrechtecharta, Nichtabführung von Umsatzsteuer, Verwaltungsrechtliche Sanktion, Strafrechtliche Sanktion, Doppelsanktion bei Nichtabführung von Umsatzsteuer
Leitsatz (amtlich)
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es zulässt, dass nach Verhängung einer rechtskräftigen steuerlichen Sanktion wegen desselben Sachverhalts Strafverfahren wegen Nichtabführung der Mehrwertsteuer eingeleitet werden, nicht entgegensteht, wenn diese Sanktion gegen eine Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit verhängt wurde, während sich die Strafverfahren gegen eine natürliche Person richten.
Normenkette
Grundrechtecharta Art. 50
Beteiligte
Verfahrensgang
Tribunale di Santa Maria (Italien) (Beschluss vom 23.04.2015; Abl.EU 2015, Nr. C 245/8) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 2 und 273 ‐ Nationale Rechtsvorschriften, die für ein- und denselben Sachverhalt (Nichtabführung der Mehrwertsteuer) eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen ‐ Charta der Grundrechte der Europäischen Union ‐ Art. 50 ‐ Grundsatz ne bis in idem ‐ Identität der verfolgten oder mit einer Sanktion belegten Person ‐ Fehlen“
In den verbundenen Rechtssachen C-217/15 und C-350/15
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Santa Maria Capua Vetere (Gericht von Santa Maria Capua Vetere, Italien) mit Entscheidungen vom 23. April und vom 23. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai und am 10. Juli 2015, in den Strafverfahren gegen
Massimo Orsi (C-217/15),
Luciano Baldetti (C-350/15)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Herrn Orsi, vertreten durch V. Di Vaio, avvocato,
‐ von Herrn Baldetti, vertreten durch V. Di Vaio und V. D’Amore, avvocati,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato,
‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas, F.-X. Bréchot, E. de Moustier und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Tomat, M. Owsiany-Hornung und H. Krämer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Januar 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Strafverfahren, die gegen Herrn Massimo Orsi und Herrn Luciano Baldetti wegen Straftaten eingeleitet wurden, die sie im Bereich der Mehrwertsteuer begangen haben sollen.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
Rz. 3
Art. 4 („Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“
Unionsrecht
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.
Rz. 5
In Art. 273 der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
…“
Italienisches Recht
Rz. 6
In Art. 13 Abs. 1 d...