Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Besitz einer nicht ordnungsgemäßen oder ungenauen Rechnung, Rechnungsberichtigung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängern verweigert werden kann, die unvollständige Rechnungen besitzen, auch wenn diese durch die Vorlage von Informationen zum Beweis des tatsächlichen Vorliegens, der Natur und des Betrags der berechneten Umsätze nach Erlass einer solchen ablehnenden Entscheidung vervollständigt werden.
2. Der Grundsatz der Steuerneutralität verwehrt einer Steuerverwaltung nicht, die Erstattung der von einem Dienstleistungserbringer entrichteten Mehrwertsteuer zu verweigern, obwohl den Empfängern dieser Dienstleistungen die Ausübung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, mit der diese Dienstleistungen belastet worden waren, wegen Unregelmäßigkeiten verweigert wurde, die in den von diesem Dienstleistungserbringer ausgestellten Rechnungen festgestellt wurden.
Normenkette
EWGRL 388/77
Beteiligte
Verfahrensgang
Cour d' appel de Mons (Belgien) (Urteil vom 25.05.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 243/8) |
Tatbestand
„Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie 77/388/EWG ‐ Recht auf Vorsteuerabzug ‐ Verpflichtungen des Steuerpflichtigen ‐ Besitz von nicht ordnungsgemäßen oder ungenauen Rechnungen ‐ Weglassen verpflichtender Angaben ‐ Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug ‐ Spätere Beweise des tatsächlichen Bestehens der berechneten Umsätze ‐ Berichtigte Rechnungen ‐ Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer ‐ Grundsatz der Neutralität“
In der Rechtssache C-271/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Mons (Belgien) mit Entscheidung vom 25. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 2012, in dem Verfahren
Petroma Transports SA,
Martens Énergie SA,
Martens Immo SA,
Martens SA,
Fabian Martens,
Geoffroy Martens,
Thibault Martens
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis (Berichterstatter), J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Petroma Transports SA, Martens Énergie SA, Martens Immo SA, Martens SA sowie von F. Martens, G. Martens und T. Martens, vertreten durch O. Van Ermengem, avocat,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 (ABl. L 60, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Petroma Transports SA, Martens Énergie SA, Martens Immo SA, Martens SA und F. Martens, G. Martens und T. Martens, die zusammen die Martens-Gruppe bilden, einerseits und dem Belgischen Staat andererseits über dessen Weigerung, ihnen das Recht auf Vorsteuerabzug für innerhalb der Martens-Gruppe erbrachte Dienstleistungen zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“.
Rz. 4
Der in Abschnitt VII („Steuertatbestand und Steueranspruch“) der Richtlinie enthaltene Art. 10 sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als
a) Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
b) Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.
(2) Der ...