Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsangleichung. Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten. Vermeidung der Doppelbesteuerung von Dividenden
Normenkette
EWGRL 435/90 Art. 4 Abs. 1
Beteiligte
Schneider Electric SE, Axa SA, BNP Paribas SA, Engie SA, Orange SA, L'Air liquide, société anonyme pour l'étude et l'exploitation des procédés Georges Claude |
Premier ministre, Ministre de l'Économie, des Finances et de la Relance |
Verfahrensgang
Conseil d' Etat (Frankreich) (Beschluss vom 23.10.2020; ABl. EU 2021, Nr. C 9/10) |
Tenor
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Muttergesellschaft bei der Weiterausschüttung von durch ihre Tochtergesellschaften ausgeschütteten Gewinnen an ihre Anteilseigner einen Steuervorabzug schuldet, der zur Gewährung einer Steuergutschrift führt, wenn diese Gewinne nicht mit dem allgemeinen Satz der Körperschaftsteuer besteuert wurden, sofern die aufgrund dieses Vorabzugs geschuldeten Beträge über die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehene Obergrenze von 5 % hinausgehen. Eine solche Regelung fällt nicht unter Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 90/435.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
Schneider Electric SE,
Axa SA,
BNP Paribas SA,
Engie SA,
Orange SA,
L'Air liquide, société anonyme pour l'étude et l'exploitation des procédés Georges Claude
gegen
Premier ministre,
Ministre de l'Économie, des Finances et de la Relance
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin), sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Schneider Electric SE, der Axa SA, der Engie SA und der Orange SA, vertreten durch S. Dardour-Attali, B. Boutemy, S. Espasa-Mattei, C. Smits und C. Vannini, Avocats,
- der L'Air Liquide, société anonyme pour l'étude et l'exploitation des procédés Georges Claude, vertreten durch A. Madec und G. Blanluet, Avocats,
- der französischen Regierung, vertreten durch É. Toutain, E. de Moustier und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 14. Oktober 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6, berichtigt in ABl. 1990, L 266, S. 20).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Schneider Electric SE, der Axa SA, der BNP Paribas SA, der Engie SA, der Orange SA und der L'Air Liquide, société anonyme pour l'étude et l'exploitation des procédés Georges Claude (im Folgenden: L'Air Liquide) auf der einen und dem Premier Ministre (Premierminister, Frankreich) sowie dem Ministre de l'Économie, des Finances et de Relance (Minister für Wirtschaft, Finanzen und Aufschwung, Frankreich) auf der anderen Seite wegen einer Klage auf Nichtigerklärung der Verwaltungskommentare zum Steuervorabzug des Art. 223e des Code Général des Impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: CGI).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 90/435 lautete:
„Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie hatte folgenden Wortlaut:
„Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an
- auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staat...