Entscheidungsstichwort (Thema)
Einfuhr, Steuerbefreiung, Andere Lagerregelung als Zolllagerregelung, Physisches Verbringen der Ware in das Lager als Voraussetzung der Einfuhrbefreiung, Zahlung von EUSt trotz Berichtigung im Reverse-Charge-Verfahren durch Selbstfakturierung
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 16 Abs. 1 ‐ in der Fassung des Art. 28c ‐ der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2006/18/EG des Rates vom 14. Februar 2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Gewährung der in dieser Regelung vorgesehenen Befreiung von der Einfuhrmehrwertsteuer davon abhängig macht, dass die eingeführten Waren, die mehrwertsteuerrechtlich für ein Steuerlager bestimmt sind, physisch in dieses Lager verbracht werden.
2. Die Sechste Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2006/18 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie gemäß dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Mitgliedstaat die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer verlangt, obwohl diese bereits im Reverse-Charge-Verfahren durch Selbstfakturierung und Eintragung in das Ein- und Verkaufsregister des Steuerpflichtigen berichtigt wurde.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 16 Abs. 1
Beteiligte
Agenzia delle Dogane - Ufficio delle Dogane di Livorno |
Verfahrensgang
Commissione Tributaria Toscana (Italien) (Urteil vom 25.05.2012; ABl. EU 2013, Nr. C 307/32) |
Tatbestand
„Vorabentscheidungsersuchen - Mehrwertsteuer - Sechste Richtlinie 77/388/EWG - Richtlinie 2006/112/EG - Befreiung der Einfuhr von Gegenständen, die einer anderen Lagerregelung als der Zolllagerregelung unterliegen sollen - Pflicht, die Waren physisch in das Lager zu verbringen - Nichtbeachtung - Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer, obwohl diese bereits im Reverse-Charge-Verfahren entrichtet wurde.
In der Rechtssache C-272/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria regionale per la Toscana (Italien) mit Entscheidung vom 25. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Mai 2013, in dem Verfahren
Equoland Soc. coop. arl
gegen
Agenzia delle Dogane ‐ Ufficio delle Dogane di Livorno
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet und der Richter E. Levits und F. Biltgen (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. April 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Equoland Soc. coop. arl, vertreten durch M. Turci, R. Vianello und D. D’Alauro, avvocati,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch J. García-Valdecasas Dorrego und L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und C. Soulay als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/18/EG des Rates vom 14. Februar 2006 (ABl. L 51, S. 12) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie der Art. 154 und 157 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Equoland Soc. coop. arl (im Folgenden: Equoland) und der Agenzia delle Dogane ‐ Ufficio delle Dogane di Livorno (im Folgenden: Ufficio) über deren Entscheidung, Equoland aufzugeben, Einfuhrmehrwertsteuer auf nicht physisch in ein Steuerlager verbrachte Waren zu zahlen, obwohl sie diese Steuer bereits im Reverse-Charge-Verfahren entrichtet hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 10 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt. Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Gemeinschaft an einer der Regelungen nach Artikel 7 Absatz 3, so treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesen Regelungen nicht mehr unterliegen.
Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen, landwirtschaftlich...