Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zollunion. Mehrwertsteuer. Steuerschuldner. Einfuhrmehrwertsteuer. Unionszollkodex. Gesamtschuldnerische Haftung des indirekten Zollvertreters und des einführenden Unternehmens. Zölle
Normenkette
EUV 952/2013 Art. 77 Abs. 3; EGRL 112/2006 Art. 201
Beteiligte
Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Venezia |
Verfahrensgang
Commissione tributaria provinciale di Venezia (Italien) (Beschluss vom 17.11.2020) |
Tenor
1. Art. 77 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union ist dahin auszulegen, dass der indirekte Zollvertreter allein nach dieser Bestimmung nur die für die von ihm angemeldeten Waren geschuldeten Zölle und nicht auch die Einfuhrmehrwertsteuer für diese Waren schuldet.
2. Art. 201 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der indirekte Zollvertreter für die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer nicht gesamtschuldnerisch mit dem Einführer haftbar gemacht werden kann, wenn es keine nationalen Vorschriften gibt, in denen er ausdrücklich und eindeutig als Schuldner dieser Steuer bestimmt oder anerkannt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria provinciale di Venezia (Provinzfinanzgericht Venedig, Italien) mit Entscheidung vom 17. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Dezember 2020, in dem Verfahren
U. I. Srl
gegen
Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Venezia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter) und P. G. Xuereb,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der U. I. Srl, vertreten durch C. Santacroce und A. Dal Ferro, Avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, Avvocato dello Stato,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, K. Georgiadis und G. Avdikos als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, F. Clotuche-Duvieusart und F. Moro als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 201 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Art. 77 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der U. I. Srl und der Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Venezia (Zoll- und Monopolagentur – Zollamt Venedig, Italien) (im Folgenden: Zollamt) wegen der Zahlung von Einfuhrmehrwertsteuer durch U. I. als indirekten Zollvertreter zusätzlich zu Zöllen auf Einfuhrgeschäfte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 43 und 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie lauten:
„(43) Die Mitgliedstaaten sollten den Einfuhrsteuerschuldner nach freiem Ermessen bestimmen können.
(44) Die Mitgliedstaaten sollten auch Regelungen treffen können, nach denen eine andere Person als der Steuerschuldner gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Steuer haftet.”
Rz. 4
Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.
Rz. 5
Nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie gilt als Einfuhr eines Gegenstands die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Art. 29 AEUV befindet, in die Union.
Rz. 6
Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.
Rz. 7
Art. 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die [Union] einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne der Artikel 156, 276 und 277, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, treten Steuertatbestand und Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren oder dieser sonstigen Regelung nicht mehr unterliegen.
Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung, treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für die...