Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, Nacherhebung von Einfuhrabgaben
Leitsatz (amtlich)
Das Recht jeder Person, vor dem Erlass einer für ihre Interessen möglicherweise nachteiligen Entscheidung gehört zu werden, ist dahin auszulegen, dass die Verteidigungsrechte des Adressaten eines Steuerberichtigungsbescheids, den die Zollbehörden ohne vorherige Anhörung des Betroffenen erlassen haben, nicht verletzt sind, wenn die nationale Regelung, die es dem Betroffenen gestattet, den Bescheid mit einem verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelf anzufechten, unter Verweis auf Art. 244 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung lediglich die Möglichkeit vorsieht, die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids bis zu seiner etwaigen Änderung zu beantragen, ohne dass die Einlegung eines verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs zur automatischen Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids führt, sofern die Anwendung von Art. 244 Abs. 2 der Verordnung durch die Zollbehörden die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung nicht beschränkt, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 244
Beteiligte
Agenzia delle dogane e dei Monopoli |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ‐ Anspruch auf rechtliches Gehör ‐ Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 ‐ Zollkodex der Gemeinschaften ‐ Art. 244 ‐ Nacherhebung einer Zollschuld ‐ Keine vorherige Anhörung des Adressaten vor Erlass eines Steuerberichtigungsbescheids ‐ Anspruch des Adressaten auf Aussetzung der Vollziehung des Berichtigungsbescheids ‐ Keine automatische Aussetzung bei Einlegung eines verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs ‐ Verweis auf die Voraussetzungen des Art. 244 des Zollkodex“
In der Rechtssache C-276/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 17. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2016, in dem Verfahren
Prequ’ Italia Srl
gegen
Agenzia delle Dogane e dei Monopoli
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter) sowie der Richterinnen C. Toader und A. Prechal,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Tomat und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. 2000, L 311, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) und des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte gemäß dem Unionsrecht.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Prequ’ Italia Srl und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Agentur für Zölle und Monopole, Italien, im Folgenden: Zollagentur) wegen Steuerbescheiden der Zollagentur über die Nacherhebung von Einfuhrmehrwertsteuer wegen Nichteinhaltung der Pflicht, Waren physisch in ein Steuerlager zu verbringen.
Rechtlicher Rahmen
Zollkodex
Rz. 3
Art. 243 des Zollkodex bestimmt Folgendes:
„(1) Jede Person kann einen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts einlegen, die sie unmittelbar und persönlich betreffen.
…
Der Rechtsbehelf ist in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem die Entscheidung getroffen oder beantragt wurde.
(2) Ein Rechtsbehelf kann eingelegt werden:
a) auf einer ersten Stufe bei der von den Mitgliedstaaten dafür bestimmten Zollbehörde;
b) auf einer zweiten Stufe bei einer unabhängigen Instanz; dabei kann es sich nach dem geltenden Recht der Mitgliedstaaten um ein Gericht oder eine gleichwertige spezielle Stelle handeln.“
Rz. 4
Art. 244 des Zollkodex lautet:
„Durch die Einlegung des Rechtsbehelfs wird die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung nicht ausgesetzt.
Die Zollbehörden setzen jedoch die Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.
Bewirkt die angefochtene Entscheidung die Erhebung von Einfuhr- oder ...