Entscheidungsstichwort (Thema)
Unionsbürgerschaft. Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten. Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats. Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat. Gewährung von Ausbildungsförderung. Voraussetzung des ständigen Wohnsitzes. Ausbildungsstätte im Wohnsitzstaat des Antragstellers oder in einem Nachbarstaat. Begrenzte Ausnahme. Besondere Umstände in der Person des Antragstellers
Normenkette
AEUV Art. 20-21
Beteiligte
Andreas Ingemar Thiele Meneses |
Tenor
Die Art. 20 AEUV und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Förderung für eine Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich von der alleinigen Voraussetzung, dass im Inland ein ständiger Wohnsitz im Sinne dieser Regelung begründet worden ist, abhängt und bei eigenen Staatsangehörigen ohne ständigen Wohnsitz im Inland die Förderung einer Ausbildung im Ausland nur im Wohnsitzstaat des Antragstellers oder in einem Nachbarstaat dieses Staates vorgesehen ist, und auch nur, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. April 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2012, in dem Verfahren
Andreas Ingemar Thiele Meneses
gegen
Region Hannover
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Thiele Meneses, vertreten durch Rechtsanwalt R. Braun,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning als Bevollmächtigten,
- der griechischen Regierung, vertreten durch G. Papagianni als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und D. Roussanov als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 AEUV und 21 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Thiele Meneses, einem deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Istanbul (Türkei), und der Region Hannover – Team BAföG – wegen Versagung von Ausbildungsförderung für ein Studium in den Niederlanden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
§ 4 („Ausbildung im Inland”) des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz) in der Fassung vom 7. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1952, im Folgenden: BAföG) lautet:
„Ausbildungsförderung wird vorbehaltlich der §§ 5 und 6 für die Ausbildung im Inland geleistet.”
Rz. 4
In § 5 („Ausbildung im Ausland”) BAföG ist bestimmt:
„(1) Der ständige Wohnsitz im Sinne dieses Gesetzes ist an dem Ort begründet, der nicht nur vorübergehend Mittelpunkt der Lebensbeziehungen ist, ohne dass es auf den Willen zur ständigen Niederlassung ankommt; wer sich lediglich zum Zwecke der Ausbildung an einem Ort aufhält, hat dort nicht seinen ständigen Wohnsitz begründet.
(2) Auszubildenden, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, wird Ausbildungsförderung geleistet für den Besuch einer im Ausland gelegenen Ausbildungsstätte, wenn
…
3. eine Ausbildung an einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in der Schweiz aufgenommen oder fortgesetzt wird.
…”
Rz. 5
In § 6 („Förderung der Deutschen im Ausland”) BAföG ist bestimmt:
„Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, die ihren ständigen Wohnsitz in einem ausländischen Staat haben und dort oder von dort aus in einem Nachbarstaat eine Ausbildungsstätte besuchen, kann Ausbildungsförderung geleistet werden, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen. Art und Dauer der Leistungen sowie die Anrechnung des Einkommens und Vermögens richten sich nach den besonderen Verhältnissen im Aufenthaltsland. …”
Rz. 6
In § 16 („Förderungsdauer im Ausland”) BAföG ist bestimmt:
„(1) Für eine Ausbildung im Ausland nach § 5 Absatz 2 Nummer 1 oder Absatz 5 wird Ausbildungsförderung längstens für die Dauer eines Jahres geleistet. …
…
(3) In den Fällen des § 5 Absatz 2 Nummer 2 und 3 wird Ausbildungsförderung ohne die zeitliche Begrenzung der Absätze 1 und 2 geleistet, in den Fällen des § 5 Absatz 2 Nummer 3 jedoch nur dann über ein Jahr hinaus, wenn der Auszubildende bei Beginn eines nach dem 31. Dezember 2007 aufgenommenen Auslandsaufenthalts bereits seit mindestens drei Jahren seinen ständigen Wohnsitz im Inland hatte.”
Rz. 7
Zu § 6 BAföG ist in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum BAföG (im Fol...