Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, Vorsteuerberichtigung aufgrund Gesetzesänderung
Leitsatz (amtlich)
Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit untersagen es nicht, dass ein Mitgliedstaat ausnahmsweise und um zu verhindern, dass während des Gesetzgebungsverfahrens in großem Umfang Finanzkonstruktionen zur Verminderung der Mehrwertsteuerbelastung angewandt werden, die mit einem Änderungsgesetz gerade bekämpft werden sollen, diesem Gesetz Rückwirkung zukommen lässt, wenn unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren vorliegenden die Wirtschaftsbeteiligten, die die mit dem Gesetz zu erfassenden wirtschaftlichen Tätigkeiten ausüben, von dem bevorstehenden Erlass dieses Gesetzes und der beabsichtigten Rückwirkung derart in Kenntnis gesetzt worden sind, dass sie zu verstehen in der Lage sind, wie sich die beabsichtigte Gesetzesänderung auf ihre Tätigkeiten auswirkt.
Wenn dieses Gesetz ein zuvor der Mehrwertsteuer unterliegendes Grundstücksgeschäft von der Steuer befreit, darf es bewirken, dass die Berichtigung der Mehrwertsteuer rückgängig gemacht wird, die deshalb erfolgte, weil zum Zeitpunkt der Bestimmung einer Immobilie zu einem damals als besteuert angesehenen Umsatz ein Recht auf Vorsteuerabzug der auf die Lieferung dieser Immobilie entrichteten Mehrwertsteuer ausgeübt wurde.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 17, 20
Beteiligte
Staatssecretaris van Financiën |
Verfahrensgang
Hoge Raad (Niederlande) (Entscheidung vom 18.10.2002) |
Tatbestand
„Umsatzsteuer ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Artikel 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG ‐ Vorsteuerabzug ‐ Änderung der nationalen Rechtsvorschriften ‐ Rückwirkung ‐ Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C-376/02
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 18. Oktober 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Oktober 2002, in dem Verfahren
Stichting „Goed Wonen“
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans und A. Rosas (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta und des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet, der Richterin N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr, J. N. Cunha Rodrigues, P. Kuris, E. Juhász, G. Arestis und M. Ilečič,
Generalanwalt: A. Tizzano,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2004,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Stichting „Goed Wonen“, vertreten durch G. Vos, belastingsadviseur,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und S. Terstal als Bevollmächtigte,
‐ der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und D. W. V. Zijlstra als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2004
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 17 und 20 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits der Stichting „Goed Wonen“, einer niederländischen Stiftung, gegen den Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen) über einen Nacherhebungsbescheid des Inspecteur van de belastingsdienst (im Folgenden: Inspecteur) über die von dieser Stiftung für den Zeitraum 1. April bis 30. Juni 1995 angemeldete Mehrwertsteuer. Dieser Rechtsstreit hat bereits zu einem Urteil des Gerichtshofes über eine ebenfalls vom Hoge Raad vorgelegte Vorabentscheidungsfrage geführt (Urteil vom 4. Oktober 2001 in der Rechtssache C-326/99, „Goed Wonen“, Slg. 2001, I-6831).
Rechtlicher Rahmen
Das Gemeinschaftsrecht
3
Artikel 17 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug
(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
…“
4
Artikel 20 der Sechsten Richtlinie lautet wie folgt:
„Berichtigung der Vorsteuerabzüge
„(1) Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird nac...