Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Reverse-Charge-Verfahren. Lieferung von Holzerzeugnissen. Nationale Regelung, nach der für die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens eine Erfassung für Mehrwertsteuerzwecke erforderlich ist. Grundsatz der steuerlichen Neutralität
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Sector 1 a Finanţelor Publice |
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Serviciul Soluţionare Contestaţii 1 |
Verfahrensgang
Curte de Apel Bucuresti (Rumänien) (Beschluss vom 09.12.2020; ABl. EU 2021, Nr. C 228/19) |
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der das Reverse-Charge-Verfahren nicht für einen Steuerpflichtigen gilt, der vor der Bewirkung der steuerpflichtigen Umsätze seine Erfassung für Mehrwertsteuerzwecke weder beantragt noch von Amts wegen erhalten hatte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2021, in dem Verfahren
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Sector 1 a Finanţelor Publice
gegen
VB,
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Serviciul Soluţionare Contestaţii 1
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer, des Richters F. Biltgen und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von VB, vertreten durch A. Arseni, C. Chiriac, C.-L. Dobrinescu und S. Ilie, Avocaţi,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Sector 1 a Finanţelor Publice (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest – Amt für öffentliche Finanzen des Stadtbezirks 1, Rumänien) auf der einen sowie VB und der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Serviciul Soluţionare Contestaţii 1 (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest – Rechtsbehelfsstelle 1, Rumänien) auf der anderen Seite wegen der Entscheidung der zuständigen Steuerverwaltung, VB die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens zu versagen und sie zur Nachzahlung von Mehrwertsteuer auf die Verkäufe von Standholz heranzuziehen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Rz. 3
Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 4
Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen’ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.”
Rz. 5
Art. 193 der Richtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.”
Rz. 6
Art. 199 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:
…
(2) Bei der Anwendung der in Absatz 1 geregelten Möglichkeit können die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen und die Kategorien von Lieferern und Dienstleistungserbringern sowie von Erwerbern...