Leitsatz
Dem EuGH werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass es im Ermessen des zuständigen Trägers des Beschäftigungsmitgliedstaats steht, Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anzuwenden, wenn im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird?
2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen gewährt würden?
3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Inwieweit unterliegt die Ermessensentscheidung des zuständigen Trägers der gerichtlichen Kontrolle?
Normenkette
Art. 267 AEUV, Art. 76 Abs. 1, Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71, § 102 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter eines 1995 geborenen Sohnes S. Sie ist deutsche Staatsangehörige und hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das FA behandelte sie gem. § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.
Ihr Ehemann und Vater von S ist Belgier. Er arbeitete seit November 2006 bei einer belgischen Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos gewesen. Die Familie lebte zunächst in Deutschland und zog im Juni 2006 nach Belgien.
Die Klägerin erhielt deutsches Kindergeld für S. Ihr Ehemann hatte in Belgien kein Kindergeld beantragt. Als die Familienkasse vom Umzug nach Belgien erfuhr, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Juli 2006 auf. Auf den Einspruch hin gewährte sie (Differenz-)Kindergeld unter Anrechnung des belgischen Kindergeldanspruchs.
Die Klage auf ungeschmälertes Kindergeld hatte Erfolg. Das FG (FG Düsseldorf, Urteil vom 18.5.2009, 14 K 1750/08 Kg, Haufe-Index 2182278, EFG 2009, 1302) erachtete den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid als rechtswidrig, weil die Anrechnung der nicht beantragten belgischen Familienleistung auf das deutsche Kindergeld in das Ermessen der Familienkasse gestellt sei; diese habe zu Unrecht eine gebundene Entscheidung angenommen.
Entscheidung
Die Entscheidung hängt von den Vorlagefragen ab, die der BFH dem EuGH gestellt hat.
Hinweis
Die mit Wirkung vom 1.5.2010 durch die VO Nr. 883/2004 abgelöste VO Nr. 1408/71 war bereits Gegenstand mehrerer Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, der daraufhin zuletzt durch Urteile vom 12.6.2012, C-611/10 und C-612/10, über Kindergeldansprüche von aus Polen entsandten und Saisonarbeitnehmern entschieden hatte.
1. Sehen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Familienangehörigen wohnen, für einen der Familienangehörigen Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor, so ruht nach Art. 76 Abs. 1 VO 1408/71 der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen (Beschäftigungs-)Mitgliedstaats geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats vorgesehenen Betrag.
Wird im Wohnsitzstaat kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der andere Mitgliedstaat seine Zahlungen nach Art. 76 Abs. 2 VO 1408/71 so bemessen, als ob Leistungen in dem Wohnsitzstaat gewährt würden. Mit dieser Regelung hatte der Gemeinschaftsgesetzgeber auf die Rechtsprechung des EuGH reagiert, wonach bei fehlender Antragstellung im Wohnsitzstaat der Familie der Kindergeldanspruch im anderen (Beschäftigungs-)Mitgliedstaat nicht ausgesetzt werden durfte.
2. Grundsätzlich haben die Berechtigten kein Wahlrecht, Leistungen des einen oder des anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen. Der Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten spricht daher für das Ruhen des Kindergeldanspruchs im Beschäftigungsmitgliedstaat ohne Rücksicht auf den individuellen Grund für die Nichtbeantragung der Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familie.
Der Wortlaut des Art. 76 Abs. 2 ("kann") deutet dagegen auf eine Ermessensvorschrift hin, ohne dass erkennbar wäre, welche Ermessenserwägungen anzustellen sind. Denkbar ist auch, dass das Wort "kann" lediglich die Befugnis des zuständigen Trägers umschreibt, nicht beantragtes ausländisches Kindergeld anzurechnen.
Ob es sich bei Art. 76 Abs. 2 VO 1408/71 um eine Ermessensvorschrift handelt, welche Ermessenserwägungen anzustellen wären und inwieweit eine gerichtliche Kontrolle greift, hat der EuGH nun zu klären.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 27.9.2012 – III R 40/09