Leitsatz
Es entspricht der Lebenserfahrung, dass in Höhe der Hälfte der Differenz zwischen den Einkünften des unterhaltsverpflichteten Ehepartners und den geringeren eigenen Mitteln des Kindes Unterhaltsleistungen des Ehegatten anzunehmen sind. Zur Beurteilung der Frage, ob ein abzweigungsberechtigtes behindertes Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und deshalb ein Kindergeldanspruch besteht, sind die dem behinderten Kind rechnerisch zustehenden Unterhaltsansprüche gegenüber seinem Ehegatten nicht um familienrechtlich vorrangige Unterhaltsansprüche eigener Kinder des Ehegatten zu kürzen.
Sachverhalt
Die verheiratete Klägerin ist ein abzweigungsberechtigtes behindertes Kind (GdB von 60 ohne Merkzeichen). Die Familienkasse (FK) hob die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem kindergeldberechtigten Vater der Klägerin, dem Beigeladenen, für den Zeitraum Januar 2015 bis Dezember 2018 auf, da die Behinderung der Klägerin nicht ursächlich dafür sei, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne. Mit ihrer Klage trägt die Klägerin vor, es sei unbillig, das Einkommen des Ehemannes auf den Kindergeldanspruch anzurechnen. Dieser sei ein originärer Anspruch auf Erhalt einer Sozialleistung, der das Existenzminimum der Klägerin gewährleisten solle.
Entscheidung
Das FG hat die Klage als unbegründet zurückgewiesen. Es vertritt die Auffassung, dass dem existenziellen Lebensbedarf die finanziellen Mittel des Kindes gegenüber zu stellen sind. Dazu gehörten nicht nur seine Einkünfte, sondern auch Unterhaltsleistungen des verheirateten oder geschiedenen Ehegatten oder Lebenspartners. Wenn sich aus den zur Verfügung stehenden Mitteln eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergebe, könne davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwachse, der ihre Leistungsfähigkeit mindere, sodass es in diesem Fall auch gerechtfertigt sei, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren. Es sei auch bereits durch den BFH entschieden, dass Unterhaltszahlungen des Kindes an dessen Ehegatten oder seine eigenen Kinder nicht zum Abzug zuzulassen seien. Denn anderenfalls fände der Unterhaltsbedarf des (Enkel-)Kindes zu Unrecht eine doppelte Berücksichtigung, nämlich beim Kind und (über die Einkünfte und Bezüge des Kindes) auch bei den Großeltern.
Hinweis
Die vom FG zugelassene Revision wurde eingelegt, Az beim BFH III R 11/23. In diesem Verfahren muss der BFH entscheiden, ob bei der Beurteilung, ob ein schwerbehindertes und abzweigungsberechtigtes Kind zum Selbstunterhalt außerstande ist, gegenüber dem Ehegatten zu berücksichtigende Unterhaltsansprüche wegen familienrechtlich vorrangiger Unterhaltsansprüche eigener Kinder zu kürzen sind.
Link zur Entscheidung
Thüringer FG, Urteil v. 28.02.2023, 3 K 150/20