Prof. Dr. Bernd Heuermann
Leitsatz
1. Die Änderung eines Steuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen gem. § 173 AO kommt nicht in Betracht, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen nicht anders hätte entscheiden können.
2. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG ist keine Tatsache i.S.v. § 173 AO.
Normenkette
§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 173 Abs. 1, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2. AO
Sachverhalt
Wie schon erwähnt, ist K mit seinen Einkünften aus Spekulationen bestandskräftig für das Streitjahr 1998 veranlagt worden. Er beantragte nach Ergehen der Nichtigkeitsentscheidung des BVerfG nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO die Änderung des Steuerbescheids und hatte damit vor dem FA kein Erfolg, wohl aber vor dem FG (Vollzugsdefizit als Tatsache).
Entscheidung
Auf die Revision des FA hob der BFH das FG-Urteil auf.
Hinweis
Nehmen wir an, Herr K habe im Jahr 1998 erfolgreich spekuliert und daraus erklecklichen Einkünfte bezogen, die er gegenüber dem FA auch erklärte. Er wurde bestandskräftig veranlagt. Erst später, nämlich am 09.03.2004, hat das BVerfG die Rechtsgrundlage für nichtig erklärt. K möchte nun wissen, ob die Steuerfestsetzung nach § 173 AO geändert werden kann.
Die Frage hatte das FG (FG Köln, Urteil vom 12.06.2008, 10 K 1820/05, Haufe-Index 2035830, EFG 2008, 1593) mit Ja, der BFH allerdings eindeutig mit Nein beantwortet. Warum?
1. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und der Ausspruch der Nichtigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG durch das BVerfG stellt keine neue Tatsache i.S.v. § 173 AO dar, sondern hat Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG.
2. Auch bei der Feststellung des Vollzugs- oder Erhebungsdefizits geht es nicht um Tatsachen, also nicht um eine bloß empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, sondern um einen Widerstreit zwischen dem Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf ihre Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Das festgestellte Vollzugsdefizit ist also normativer und nicht tatsächlicher Art.
3.Überdies hätte das FA auch bei Kenntnis des Vollzugsdefizits keine andere Entscheidung treffen dürfen und bis zur Entscheidung des BVerfG die Steuernorm anwenden müssen. Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind alle Rechtsnormen bis zu ihrer Aufhebung als gültig zu behandeln. Allein dem BVerfG steht das Verwerfungsmonopol zu.
Da auch keine anderen Korrekturvorschriften anwendbar sind (z.B. kein rückwirkendes Ereignis), bleibt die Erkenntnis: Jeder muss grundsätzlich sein Recht in seine eigene Hand nehmen und z.B. gegen den Steuerbescheid Einspruch einlegen. Wer dies versäumt, darf nicht auf das Recht hoffen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.05.2009 – IX R 45/08