Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Akteneinsicht und Aktenkopien im Finanzprozess. Vorrang der FGO vor dem Datenschutzrecht und dem Auskunftsrecht aus Art. 15 DSGVO
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO und § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO sowie § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO in der ab dem 1.1.2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.2017, BGBl 2017 I S. 2208) hat der Kläger im Finanzprozess Anspruch auf Akteneinsicht grundsätzlich nur in den Diensträumen des Gerichts sowie außerhalb des Gerichts befindlichen Räumen eines anderen Gerichts oder einer Behörde, nicht aber auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des bevollmächtigten Rechtsanwalts. Das gilt auch dann, wenn die örtlichen Gerichte am Kanzleisitz des Bevollmächtigten für Externe keine Kopien fertigen.
2. Es besteht auch kein Rechtsanspruch auf Anfertigung und Überlassung vollständiger Kopien, d. h. einer „Zweitakte”. Ein Beteiligter kann nicht ohne jede Konkretisierung und vorherige Prüfung auf Erheblichkeit der Aktenbestandteile für die Rechtsverfolgung sowie darauf, inwieweit die darin enthaltenen Schriftsätze, Bescheide etc. ihm bereits vorliegen, gleichsam „ins Blaue” oder „auf Verdacht” die Ablichtung einer gesamten, umfänglichen Akte verlangen (vgl. FG Baden-Württemberg, Urteil v. 17.8.2015, 9 K 488/13). Ein Anspruch auf Übersendung von Aktenkopien kann auch nicht aus Art. 15 Abs. 1 2. Halbsatz, Art. 15 Abs. 3 DSGVO hergeleitet werden.
3. § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO ist nicht dahin zu verstehen, dass die Finanzgerichte eine Pflicht trifft, Behördenakten zu digitalisieren.
4. Anders als § 2a Abs. 5 AO normiert die FGO keine Anwendung des Art. 15 Abs. 1 DSGVO im Finanzgerichtsverfahren. Dieser Ausschluss der Anwendung der DSGVO entspricht der Regelung des Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO zum Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und zum Schutz von Gerichtsverfahren (vgl. BFH, Beschluss v. 29.8.2019, X S 6/19). Denn Prozessordnungen wie die FGO gehen auch weiterhin dem Datenschutzrecht und damit auch dem Auskunftsrecht aus Art. 15 DSGVO vor.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2, 3 Sätze 1-2; DSGVO Art. 15 Abs. 1 2. Hs, Abs. 3
Tenor
Der Klägerin wird Akteneinsicht in der Weise gewährt, dass sie die Akten bei der Geschäftsstelle des Finanzgerichts oder eines Gerichts oder einer Behörde ihrer Wahl unter Aufsicht eines im öffentlichen Dienst stehenden Bediensteten einsehen kann. Der Antrag auf Übersendung der Akten in die Büroräume ihres Prozessbevollmächtigen bzw. auf Übersendung vollständiger Kopien aller Akten wird abgelehnt.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten im Klageverfahren darüber, ob eine Prüfungsentscheidung aufzuheben ist.
Nachdem der Vertreter des Beklagten die den Streitfall betreffenden Akten erst nach Aufforderung des Senats nach der mündlichen Verhandlung im Original vorgelegt hat, beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 29. August 2019, ihm Akteneinsicht durch Übersendung der vollständigen Akten im Original oder in Kopie in seine Kanzleiräume zu gewähren. Zur Begründung verwies er auf „das Gebaren” des Beklagten, angesichts dessen eine umfangreiche Recherche am Arbeitsplatz notwendig sei. Derartige Arbeiten in einem Gericht zu erledigen, sei ihm weder möglich noch zumutbar. Zudem sei bei den hamburgischen Gerichten ein Kopierer für Externe nicht vorhanden.
Ferner hat die Klägerin mit Schreiben vom 16. September 2019 einen Antrag auf Übersendung vollständiger Kopien der Akten gemäß Art. 15 DSGVO gestellt.
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten vollumfänglich auf die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten der Klägerin verwiesen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag auf Übersendung der vollständigen Akten im Original oder in Kopie in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist unbegründet.
Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 FGO in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017, BGBl I 2017, 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen.
Form und Ort der Akteneinsicht werden durch § 78 Abs. 2 und 3 FGO in der ab 1. Januar 2018 geltenden Fassung ausdrücklich geregelt. Sie hängen davon ab, ob die Prozessakten elektronisch oder in Papierform geführt werden. Da die Prozessakten im Streitfall in Papierform geführt werden, ist die Akteneinsicht gemäß § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO durch Einsichtnahme in die Akten „in Diensträumen” zu gewähren. Diensträume sind Räume des Gerichts sowie außerhalb des Gerichts befindliche Räume eines anderen Gerichts oder einer Behörde, während die Kanzleiräume eines Rechtsanwalts keine D...