Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen. unberechtigter Umsatzsteuerausweis in Gutschriften. Insolvenz des leistenden Unternehmers. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: XI R 11/24)
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Neutralität der Umsatzsteuer ist in Frage gestellt, wenn ein Unternehmer als Leistungsempfänger zwar Zahlungen an den Leistenden geleistet hat, die einen Umsatzsteueranteil enthielten, der von diesem auch an die Finanzverwaltung abgeführt wurde, er aber gleichwohl keinen Vorsteuerabzug hat, weil ein solcher nur bei tatsächlich geschuldeter Umsatzsteuer, nicht hingegen bei in Gutschriften zu Unrecht ausgewiesener Umsatzsteuer möglich ist.
2. Im Fall der Insolvenz des leistenden Unternehmers ist dem Leistungsempfänger sofort und in voller Höhe ein Direktanspruch gegenüber der Finanzverwaltung auf Erstattung der gezahlten Umsatzsteuer zuzubilligen.
3. Ein Erstattungsanspruch des Leistenden gegen das Finanzamt ist auch im Falle seiner Insolvenz nur gegeben, wenn er zuvor die zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zurückbezahlt hat.
Normenkette
UStG § 15 Abs. 1 Nr. 1; AO § 163; InsO § 35 Abs. 1
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids über den Antrag auf Vorsteuerabzug im Billigkeitswege gemäß § 163 AO vom 21.09.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.05.2021 verpflichtet, die Umsatzsteuerfestsetzungen 2010 und 2011 im Billigkeitswege dahin zu ändern, dass für das Jahr 2010 die Umsatzsteuerfestsetzung um XXX EUR und für das Jahr 2011 um XXX EUR reduziert werden.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung eines Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen für die Jahre 2010 und 2011.
Die Klägerin ist eine Schweizer Aktiengesellschaft, die im Handelsregister des Kantons Z eingetragen ist. Gesellschaftszweck ist laut Handelsregisterauszug (…). Die in der Schweiz ansässige und beim Beklagten umsatzsteuerlich geführte Klägerin ist als (…). Bis 2011 unterhielt die Klägerin Geschäftsbeziehungen zu dem im Jahr XXXX in Insolvenz geratenen Handelsunternehmen C mit Sitz in D (Deutschland). Im Rahmen dieser Geschäftsbeziehungen erbrachte C Dienstleistungen an die Klägerin (z. B. Werbeleistungen, Vermittlung von Lieferantenverträgen, Pflege von Lieferantenkontakten). Die Klägerin rechnete in den streitbefangenen Jahren 2010 und 2011 über derartige von C erbrachte Leistungen im Gutschriftverfahren (§ 14 Abs. 2 Satz 2 Umsatzsteuergesetz – UStG) unter gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer ab, obwohl sich der Leistungsort nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG am Sitz der Klägerin in der Schweiz befand und diese dort die Umsatzsteuer im Reverse-Charge-Verfahren (vgl. § 13b Abs. 2 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 UStG) bzw. in der schweizerischen Terminologie als Bezugsteuer schuldete. Die in den Gutschriften unzutreffend ausgewiesenen Steuerbeträge belaufen sich für die Jahre 2010 und 2011 auf XXX Euro bzw. XXX Euro. Die Klägerin bezahlte die Rechnungsbeträge inklusive der unzutreffend ausgewiesenen Steuerbeträge vollständig an C und machte die Steuerbeträge beim Beklagten als Vorsteuer geltend. C führte die Umsatzsteuer an das Finanzamt D (Deutschland) ab. Am XX.XX.XXXX wurde über das Vermögen von C das Insolvenzverfahren eröffnet. Das Insolvenzverfahren dauert immer noch an. Die Insolvenzverwalter von C haben einen Antrag auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Umsatzsteuer beim Finanzamt D (Deutschland) gestellt. Dieses Verfahren ruht, da der Ausgang eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesfinanzhofs (BFH) an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) abgewartet werden soll (BFH, EuGH-Vorlage vom 3. November 2022 XI R 6/21, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2023, 469).
Am XX.XX.XXXX ordnete das Zentrale Konzernprüfungsamt E (Deutschland) eine Umsatzsteuerprüfung bei der Klägerin für die Jahre 2009 bis 2013 an.
Im Zuge der Vorbereitungen auf diese Prüfung erkannte die Klägerin, dass sie aus den an C (und weitere Unternehmen) erteilten Gutschriften den Vorsteuerabzug zu Unrecht vorgenommen hatte. Daraufhin informierte sie den Beklagten mit Schreiben vom 2. Februar 2015 über den Vorgang und zahlte die zu Unrecht geltend gemachte Vorsteuer noch im Februar 2015 zurück. Ihre Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2009 bis 2012 berichtigte sie.
Mit Schreiben vom 21. April 2016 stellte die Klägerin beim Beklagten den Antrag, den Vorsteuerabzug aus den gegenüber C erteilten Gutschriften im Billigkeitswege (§ 163 Abgabenordnung – AO) zu gewähren. Mit Schreiben vom 17. Februar 2017 bezifferte sie die nunmehr streitgegenständlichen Beträge.
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Vorsteuerabzug im Billigkeitswege gemäß § 163 AO mit Bescheid vom 21. September 2020 ab.
Den hiergegen am 1. Oktober 2020 eingelegten Einspruch wies er mit Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2021 als unbegründet zurück.
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