Entscheidungsstichwort (Thema)
Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt. Berücksichtigung einer privaten Rente des Kindes nur mit dem Ertragsanteil. Erschütterung der Dreitagesfiktion bei Versendung der Einspruchsentscheidung unter Einschaltung eines privaten Postdienstleisters
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Prüfung, ob ein Kind aufgrund seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist der Bezug einer privaten Rente, deren Kapitalstamm mit Zuwendungen der Kindsmutter und eigenen Ersparnissen des Kindes dotiert wurde, nur mit dem steuerpflichtigen Ertragsanteil bei den kindeseigenen Mitteln zu berücksichtigen.
2. Bei Anwendung der Dreitagesfiktion hat das FG das Datum der tatsächlichen Aufgabe zur Post von Amts wegen zu ermitteln und darüber zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt (hier: die Einspruchsentscheidung) an dem von der Finanzbehörde angegebenen Tag zur Post gegeben wurde. Insofern ist Finanzbehörde zum Zwecke der Beweisvorsorge grundsätzlich zu einer wirksamen Postausgangskontrolle verpflichtet.
3. Die Einschaltung privater Postdienstleister kann bei der Frage von Bedeutung sein, ob die Zugangsvermutung als widerlegt gilt, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf die Folge ist.
Normenkette
EStG § 63 Abs. 1 S. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb; AO § 122 Abs. 2 Nr. 1; FGO § 47 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
1. Die Kindergeldaufhebungsbescheide vom 10.3.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.7.2021 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 Euro, hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 Euro kann die Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn der Kläger nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung von Dezember 2019 bis Juli 2021 (Streitzeitraum).
1. Der Sohn des Klägers, A (nachfolgend: Kind), geboren am xx.xx..1961, ist seit Ende 1980 aufgrund einer seelischen Störung behindert (vgl. Bescheinigung des behandelnden Psychiaters vom 13.11.2017, KiG-Akte, Bl. 38).
Mit Erklärung zum verfügbaren Nettoeinkommen eines über 18 Jahre alten Kindes mit Behinderung für das Jahr 2016 vom 30.11.2017 teilte der Kläger mit, dass das Kind ab 1.2.2017 eine Rente von 1.000 Euro pro Monat beziehe (Ziffer 7 und 8, KiG-Akte, Bl. 33). Zudem findet sich als Anlage ein die näheren Umstände der Rente erläuternder handschriftlicher Vermerk des Klägers in der Kindergeldakte der Beklagten (Bl. 36 f.; Eingang bei der Beklagten am 6.12.2017). Gleichzeitig gab der Kläger an, dass das Kind –wie in den Vorjahren– Einnahmen aus Kapitalvermögen erzielt habe (Ziffer 6; KiG-Akte, Bl. 33).
2. Mit Bescheid (zuletzt) vom 30.1.2018 setzte die Beklagte Kindergeld ab Dezember 2018 fest und erläuterte, dass das Kind wegen einer Behinderung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten und daher kindergeldrechtlich berücksichtigt werden könne (KiG-Akte, Bl. 40).
3. Mit Schreiben vom 22.7.2020 übermittelte die Bevollmächtigte auf Anforderung der Beklagten vom 28.5.2020 eine Mitteilung der X-Versicherung (nachfolgend: X-Versicherung), wonach das Kind seit 1.2.2017 eine monatliche Rente i.H. von 1.048,17 Euro erhalte (Stand 1.1.2020; KiG-Akte, Bl. 67). Zudem gab das Kind an, Einkünfte aus Kapitalvermögen zu beziehen (Erklärung zum verfügbaren Nettoeinkommen eines volljährigen Kindes mit Behinderung für das Jahr 2019 vom 20.7.2020, KiG-Akte, Bl. 80 ff.).
Nach weiterer Aufklärung des Sachverhalts (soweit der Kläger Angaben machen konnte) stellen sich die Einkünfte und Bezüge des Kindes sowie dessen Aufwendungen für die private Kranken- und Pflegeversicherung wie folgt dar:
Einnahmen aus einer privaten Rentenversicherung |
Jahr |
Betrag |
Rentenbezugsmitteilung |
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2019 |
12.387,24 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 53 |
2020 |
12.578,04 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 54 |
2021 |
12.740,88 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 71 |
Kapitalerträge (ohne Abzug des Sparer-Pauschbetrages) |
Jahr |
Kapitalerträge |
Steuerbescheinigung |
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2019 |
4.565,14 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 106 |
2020 |
4.404,72 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 107 |
Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung (xxx) |
Jahr |
KV (Basis) |
PV |
KV (Wahl) |
Bescheinigung |
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2019 |
450,96 Euro |
184,32 Euro |
96,36 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 64 |
2020 |
507,75 Euro |
285,60 Euro |
97,41 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 65 |
2021 |
593,65 Euro |
356,28 Euro |
100,07 Euro |
Gerichtsakte, Bl. 72 |
4. Mit Bescheid vom 10.3.2021 hob die Beklagte daraufhin die Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum von Dezember 2019 bis einschließlich März 2021 auf (KiG-Akte, Bl. 94 f.). Mit weiterem Bescheid –ebenfalls vom 10.3.2021– hob die Beklagte die Kin...