Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Berücksichtigung des ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs. 3 EStG bei Antragstellung nach Eintritt der formellen Bestandskraft. grob schuldhaftes Verhalten des Steuerberaters. Verletzung der Ermittlungspflicht des Fa. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
1. Die versehentlich unterlassene Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG ist keine offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO.
2. Die Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG (Antrag ermäßigter Steuersatz) ist keine neue Tatsache i. S. d. § 173 AO.
3. Der Steuerpflichtige muss sich das grobe Verschulden seines Steuerberaters zurechnen lassen, wenn dieser weder die von seiner Mitarbeiterin mittels eines DATEV-Programms erstellte Steuererklärung vor der Einreichung beim FA nachprüfte, noch anhand einer Überprüfung des Einkommensteuerbescheides erkennt, dass die beabsichtigte Beantragung der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG versehentlich unterblieben ist, noch rechtzeitig Einspruch einlegt, um eine Änderung des Bescheides zu Gunsten der Klägerin zu erreichen, so dass eine Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ausscheidet.
4. Das FA verletzt nicht seine Ermittlungspflicht, wenn es bei der Steuerfestsetzung hinsichtlich der Besteuerung des Veräußerungsgewinns der eindeutigen, von einem Steuerberater gefertigten Erklärung folgt und mangels Antrags den ermäßigten Steursatz nach § 34 Abs. 3 EStG der Besteuerung nicht zugrunde legt.
5. Da die Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG und der Antrag auf Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG nicht in einem inneren Zusammenhang stehen, verletzt das FA nicht seine Verpflichtungen aus § 89 AO, wenn es eine Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG nicht anregt.
6. Der nach Eintritt der formellen Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung gestellte Antrag auf Gewährung der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG ist kein Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, dem steuerliche Rückwirkung zukommt.
7. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a AO eröffnet nicht die Möglichkeit, die steuerliche Wirkung von Antragsrechten, die nur bis zur Bestandskraft der Steuerfestsetzung ausgeübt werden können, nach Eintritt dieses Zeitpunkts zu beseitigen.
8. Da der Antrag nach § 34 Abs. 3 S. 4 EStG nur einmal im Leben gestellt werden kann, kann nicht unterstellt werden, dass derjenige, der die vergünstigte Besteuerung geltend machen kann und alle Angaben hierzu macht, diese Tarifermäßigung auch geltend machen will, so dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO nicht in Betracht kommt.
Normenkette
EStG § 34 Abs. 3, § 16 Abs. 4; AO §§ 129, 173 Abs. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a, §§ 88-89, 150 Abs. 2 S. 1, § 110
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die formell bestandskräftige Festsetzung der Einkommensteuer für 2008 aufgrund eines erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gestellten Antrags auf ermäßigte Besteuerung nach § 34 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG – zu ändern ist.
Die Kläger sind zusammenveranlagte Eheleute. Die am … 1943 geborene Klägerin veräußerte zum 1. April 2008 ihre Arztpraxis und erzielte einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 64.149 EUR. Auf die – unstreitige – Berechnung des Gewinns in der Einkommensteuererklärung für 2008 wird vollinhaltlich Bezug genommen (Bl. 12 der Einkommensteuerakten für 2008).
Die Klägerin erklärte in der unter Mitwirkung eines steuerlichen Beraters erstellten Einkommensteuererklärung vom 19. August 2009 in der Anlage S (Selbständige Arbeit) den Veräußerungsgewinn in Höhe von 64.149 EUR und stellte den Antrag auf Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG (Bl. 6 der Einkommensteuerakten für 2008). Die Voraussetzungen hierfür waren erfüllt. Einen Antrag auf ermäßigte Besteuerung nach § 34 Abs. 3 Satz 1 EStG, dessen Voraussetzungen grundsätzlich ebenfalls erfüllt gewesen wären, stellte die Klägerin dagegen nicht.
Mit Einkommensteuerbescheid vom 29. Oktober 2009 für 2008 setze das Finanzamt die Einkommensteuer erklärungsgemäß fest, ohne dass der Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abgabenordnung – AO – angeordnet wurde. Die gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO wegen – das vorliegende Verfahren nicht betreffenden – Fragen vorläufige Einkommensteuerfestsetzung wurde nicht angefochten und mit Ablauf des 2. Dezember 2009 formell bestandskräftig.
Mit beim Finanzamt am 17. Dezember 2009 eingegangenem Schreiben vom 16. Dezember 2009 teilte der von den Klägern bevollmächtigte Steuerberater mit, dass bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung für 2008 versehentlich der ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG in Bezug auf die Besteuerung des von der Klägerin erzielten Veräußerungsgewinns nicht beantragt worden sei. Dies sei darauf zurückzuführen, dass seine äußerst fachkundige Mitarbeiterin bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung mittels ...