rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch für deutschen Stiefvater bei in Polen Altersrente beziehenden Kindesvater. Abgrenzung zwischen Familienbeihilfe und Familienleistung. Feststellungslast der Familienkasse bzgl. der tatsächlichen Anspruchskonkurrenz. Ermessensentscheidung bezüglich eines deutschen Kindergeldanspruchs bei fehlender Beantragung von Familienleistungen im Ausland
Leitsatz (redaktionell)
1. Ist strittig, ob der einkommensteuerrechtliche Kindergeldanspruch des deutschen Stiefvaters gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG durch einen in Polen bestehen vergleichbaren Anspruch des über 70 Jahre alten Kindesvaters auf Familienleistungen ausgeschlossen ist oder Gemeinschaftsrecht eine vorrangige Regelung der Anspruchskonkurrenz herbeiführt, hat die Familienkasse Auskunft über den Bezug von Familienleistungen des Kindesvaters bei der zuständigen Verbindungsstelle in Polen einzuholen, wenn der Stiefvater nachweist, dass seine Ehefrau, die Kindesmutter nach ihrem Zuzug nach Deutschland bezogene polnische Familienleistungen zurückgezahlt hat.
2. Eine Familienbeihilfe für Altersrentner ist gem. Art. 1 Buchst. u i und ii i.V.m. Art 77 VO (EWG) Nr. 1408/71 keine dem Kindergeld vergleichbare Familienleistung.
3. Steht fest, dass der in Polen lebende Kindesvater aufgrund seines Alters nicht mehr erwerbstätig ist, geht der Aufklärungsmangel zu der Frage, ob dem Kindesvater i. S. d. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG dem Kindergeld vergleichbare Leistungen nach Maßgabe des ausländischen Rechts zu zahlen waren, zu Lasten der Familienkasse.
4. Hat der in Polen ansässige Kindesvater – bei unterstelltem Anspruch – Familienleistungen nicht beantragt, ist im Rahmen der Ermessensentscheidung – entsprechend dem Vorlagebeschluss des BFH an den EuGH v. 30.10.2008 III R 92/07 – zu prüfen, ob der deutsche Kindergeldanspruch des Stiefvaters, als Ehemann der Kindesmutter, zu kürzen ist, obwohl der Kindesvater – mangels Antrags – keine Familienleistungen in Polen erhalten hat.
Normenkette
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EWGV 1408/71 Art. 76, 1 Buchst. u i, Art. 1 Buchst. u ii, Art. 77, 12 Abs. 2; EWGV 574/72 Art. 7 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Buchst. a
Tenor
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 16. November 2005 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. März 2006 verpflichtet, den Kläger hinsichtlich seines Anspruchs auf Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe für seine Stiefkinder B, C und D unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der im Jahre 1969 in E/Oberschlesien geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist seit dem 05.04.2005 mit einer 1967 geborenen polnischen Staatsangehörigen verheiratet, die mit ihm und ihren drei in den Jahren 1988, 1990 und 1994 geborenen Stiefkindern des Klägers seit dem 18.04.2005 in einem gemeinsamen Haushalt in F zusammenlebt. Vater der Kinder ist der 1935 geborene, nunmehr 74jährige polnische Staatsangehörige G, der vom 07.02.1987 bis zur Scheidung durch Urteil vom 21.06.2004 mit der Kindesmutter verheiratet war. Der Kindesvater lebt in Polen und bezieht eine Altersrente, deren genaue Höhe nicht bekannt ist und nach den Angaben der Ehefrau des Klägers vor fünf Jahren etwa 1.000 PLN betragen haben soll. Ausweislich einer Bescheinigung der Stadt E vom 07.07.2005 bezog die Ehefrau des Klägers in der Zeit vom 01.09.2004 bis 31.05.2005 in Polen Familienleistungen in Höhe von 2.007,00 PLN für jedes Kind. Hiervon zahlte sie an die Kasse des Stadtamtes am 17.06.2005 unter Hinweis auf die ihr nicht zustehenden Beträge für den Monat April und Mai 2005 insgesamt 1.091,00 PLN zurück. Zu den eigenen Einkünften des Klägers hat dessen Prozessbevollmächtigte vorgetragen, der Kläger sei in den Jahren 2003 und 2004 nicht arbeitslos gewesen, sondern erst ab Januar 2005. Ausweislich vorgelegter Bewilligungsbescheide erhielt der Kläger für sich und seine Familie ab April 2005 bis jedenfalls März 2006 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), wobei deutsches Kindergeld für die drei Stiefkinder als Einkommen angerechnet wurde.
Auf seinen Antrag vom 18.04.2005 setzte die Beklagte durch Bescheid vom 16.11.2005 Kindergeld für die Stiefkinder B, C und D in Höhe von monatlich jeweils 77,00 EUR ab April 2005 fest. Die Zahlung von Kindergeld nur in dieser Höhe begründete die Beklagte damit, dass der Kläger nach seinen Angaben in Deutschland nicht sozialversicherungspflichtig sei und deshalb ebenso wenig wie der nicht berufstätige Kindesvater in Polen vom persönlichen Geltungsbereichs der EWG-VO Nr. 1408/71 (künftig VO) und der E...