Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung. Anfechtung. kein Widerruf aufgrund arglistiger Täuschung nach Ablauf der Anfechtungsfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Prüfung, ob eine tatsächliche Verständigung von vornherein unwirksam ist, weil sie aufgrund von Verstößen gegen die Regeln der Logik oder gegen allgemeine Erfahrungssätze zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis geführt hat, handelt es sich um eine Evidenzkontrolle aus der ex ante-Perspektive der Beteiligten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und nicht um eine Würdigung des Sachverhalts unter Berücksichtigung nachträglich bekannt gewordener Tatsachen.
2. Die Anfechtungsvorschriften der §§ 119, 123 BGB sind auf tatsächliche Verständigungen im Steuerverfahren grundsätzlich anwendbar.
3. Die Anfechtungsfrist beginnt im Falle der arglistigen Täuschung mit dem Zeitpunkt, in welchem der Anfechtungsberechtigte die Täuschung entdeckt (§ 124 Abs. 2 BGB). Ein bloßer Verdacht oder ein Kennenmüssen genügt hierfür nicht.
4. Nach Ablauf der einjährigen Anfechtungsfrist des § 124 BGB kann eine durch arglistige Täuschung erwirkte tatsächliche Verständigung entgegen § 130 Abs. 3 S. 2 AO nicht mehr nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO zurückgenommen werden.
Normenkette
AO §§ 88, 162 Abs. 1, § 130 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Sätze 1-2; BGB §§ 119, 123-124
Tenor
Die Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer sowie den Gewerbesteuermessbetrag für 2000 vom 23. Dezember 2011, alle in Gestalt von Einspruchsentscheidungen vom 19. Februar 2013, werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung sowie die Hinzuschätzung gewerblicher Einkünfte bzw. Umsätze.
Der Kläger erzielte als Einzelunternehmer gemäß § 4 Abs. 3 Einkommensteuergesetz – EStG – ermittelte gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines Imbissstandes in der C.-Straße in 14467 D.. Im Rahmen einer für die Jahre 1998 bis 2000 durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Beklagte eine nicht ordnungsgemäße Buchführung des Klägers fest. Ein Kassenbuch und Tagessummenbons habe es nicht gegeben. Bei einer Gegenüberstellung der Kasseneinnahmen und -ausgaben hätten sich Fehlbeträge ergeben. Handschriftliche Aufzeichnungen über Tageseinnahmen des Jahres 1998 lauteten bereits auf EUR. Wareneinkäufe seien nur unvollständig erfasst und Lieferscheine vernichtet worden. Buchhaltungsunterlagen für das erste Halbjahr 2000 hätten nicht vorgelegt werden können.
Auf Grundlage einer Umsatzkalkulation nahm der Beklagte Hinzuschätzungen zu den erklärten Umsätzen (1998: 210.220 DM, 1999: 278.971 DM, 2000: 256.454 DM) in Höhe von brutto 45.000 DM (1998) sowie 54.000 DM (1999 und 2000) vor. Den gewerblichen Gewinn bemaß der Beklagte aufgrund der Prüfung mit 83.743 DM (1998), 94.608,48 DM (1999) und 99.367 DM (2000). Wegen der Einzelheiten wird auf den Bericht vom 26. August 2003 Bezug genommen (BP-Akten Bl. 8 ff.).
Während des folgenden Rechtsbehelfsverfahrens gab der Kläger in einer Erklärung vom 8. September 2004 an, neben einem betrieblichen Bargeldbestand zum 31. Dezember 2000 in Höhe von ca. 21.000 DM lediglich ein außerbetriebliches Bankkonto bei der I. Bank mit einem Bestand in Höhe von 4.109,15 DM zum 31. Dezember 2000 zu haben. Das Erklärungsformular fragte alle außerbetrieblichen Bank-, Postgiro-, Festgeld-, und ähnliche Guthaben für die Zeit vom 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2000 ab. Seinen zudem abgefragten außerbetrieblichen Bargeldbestand im streitigen Zeitraum gab der Kläger mit „unbekannt” an. Wegen dessen Einzelheiten wird auf Bl. 12 der Steuerfahndungsakte verwiesen.
Am 20. September 2004 kam es wegen der erschwerten Sachverhaltsermittlung zu einer tatsächlichen Verständigung über die Erhöhung der Betriebseinnahmen sowie der Bruttoumsätze für die Jahre 1998 bis 2000 um 23.000 DM (1998) bzw. 28.000 DM (1999 und 2000); insgesamt betrug die Erhöhung also 79.000 DM. Der Beklagte setzte die Ergebnisse der tatsächlichen Verständigung in Änderungsbescheiden zur Einkommensteuer, zum Gewerbesteuermessbetrag und zur Umsatzsteuer für das Jahr 2000 vom 5. Januar 2004 um.
Im Zuge der Betriebsprüfung für die Jahre 2001 bis 2003 sowie der anschließenden Einspruchs- und Klageverfahren legte der Kläger Unterlagen über weitere Privatkonten vor, um die vom Beklagten für diese Jahre auf Grundlage einer Geldverkehrsrechnung durchgeführten Hinzuschätzungen zu widerlegen. Das Finanzgericht Berlin-Brandenburg hat hierfür in den Verfahren 13 V 13047/07 und 13 V 13048/07 mit Beschlüssen vom 16. August 2007 Aussetzung der Vollziehung gewährt, und zwar unter anderem deshalb, weil der Anfangsbestand des außerbetrieblichen Vermögens zum 1. Janu...