rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Behauptung des Nichterhalts von Steuerbescheiden durch den Prozessbevollmächtigten: Vermutung des Zugangs der Steuerbescheide durch die Beweiswürdigung des Finanzgerichts infolge der Nichtvorlage angeforderter Kopien aus dem Fristenkontrollbuch bzw. Fristenkalender
Leitsatz (redaktionell)
1. Bestreitet ein Bevollmächtigter den Erhalt von Steuerbescheiden, kann der Nachweis des Zugangs von der Finanzbehörde nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises (prima-facie-Beweis) geführt werden; es gelten vielmehr die allgemeinen Beweisregeln, insbesondere die des Indizienbeweises. Demnach können bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Steuerbescheids im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung vom FG im Wege einer freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO dahingehend gewürdigt werden, dass entgegen der Behauptung des Bevollmächtigten von einem Zugang des Steuerbescheids ausgegangen wird.
2. Das Gericht kann entgegen der Behauptung des Bevollmächtigten von einem Einwurf von Steuerbescheiden in den Briefkasten der Sozietät, an der der Bevollmächtigte beteiligt war, überzeugt sein, wenn die Bescheide ausweislich der Finanzamtsakten zur Post gegeben worden sind, in diesen Akten auch keine Hinweise auf einen Rücklauf der Bescheide ersichtlich sind und wenn der Bevollmächtigte trotz gerichtlicher Aufforderung nach § 79b FGO dem Finanzgericht keine Kopien aus seinem Fristenkontrollbuch bzw. Fristenkalender für die streitigen Zeiträume des mutmaßlichen Bescheidzugangs vorgelegt hat. Wenn er diese Dokumente nicht vorlegt, darf das Gericht aus diesem Umstand für den Kläger ungünstige Schlussfolgerungen ziehen (Abgrenzung zu BFH, Urteil v. 31.5.2005, I R 103/04, BStBl 2005 II S. 623).
3. Verweist ein späterer Änderungsbescheid in den Erläuterungen unter ausdrücklicher Angabe des Datums des vorangegegangen, dem Bevollmächtigten nicht zugegangenen Bescheids darauf, dass er diesen Bescheid ändert und geht der Bevollmächtigte in seinem Einspruch gegen den Änderungsbescheid überhaupt nicht darauf ein, dass er den vorangegangenen Bescheid nicht erhalten habe, spricht das indiziell ebenfalls für einen Zugang des vorangegangenen Bescheids.
Normenkette
AO § 122 Abs. 2, § 164 Abs. 1-2; FGO § 96 Abs. 1 S. 1, § 79b
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.
Tatbestand
Die Prozessbeteiligten streiten um die Frage, ob der Kläger einen verfahrensrechtlichen Anspruch auf Herabsetzung der Einkommen- und der Umsatzsteuer 2011 auf die Beträge hat, die sich bei vollständiger Berücksichtigung seiner Angaben in der von ihm am 15. August 2016 beim Beklagten eingereichten Jahressteuererklärungen 2011 ergeben.
Der ledige Kläger, von Beruf Diplom-Ingenieur für Nachrichtentechnik, erzielte im Streitjahr 2011 Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus freiberuflicher Tätigkeit, aus nichtselbständiger Arbeit, aus Vermietung und Verpachtung und aus Kapitalvermögen. Für seine Veranlagung zur Einkommen- und Umsatzsteuer war der Beklagte zuständig.
In steuerlichen Angelegenheiten wurde er gegenüber dem Beklagten von seinem jetzigen Prozessbevollmächtigten vertreten. Dieser hatte mit Schreiben vom 29. Dezember 2011 Fristverlängerung für die Abgabe der Jahressteuererklärungen 2011 bis zum 28. Februar 2012 beantragt, die vom Beklagten auch gewährt wurde. Der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers war damals Partner einer Kanzlei von Rechtsanwälten, Notaren und Steuerberatern „B…” mit Kanzleisitz „C…-straße, D…”.
Mangels Einreichung von Jahressteuererklärungen durch den Kläger schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) betr. Einkommen- und Umsatzsteuer und setzte diese mit zwei Bescheiden vom 6. Mai 2013 auf 77 970,00 EUR (= ESt 2011) bzw. 1 350,00 EUR (= USt 2011) fest. Die beiden Bescheide ergingen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO). Folgende (Netto-)Einkünfte wurden in dem Einkommensteuerbescheid angesetzt:
Einkünfte aus Gewerbebetrieb: |
580,00 EUR |
Einkünfte aus selbständiger Arbeit: |
10 000,00 EUR |
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit: |
202 265,00 EUR |
In seinem Umsatzsteuerbescheid ging der Beklagte von folgenden Besteuerungsgrundlagen aus:
Umsätze zum vollen Steuersatz in Höhe von 15 000,00 EUR Vorsteuern in Höhe von 1 500,00 EUR
Der Beklagte erließ in der Folgezeit aufgrund mehrerer Mitteilungen über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen unter Berufung auf § 164 Abs. 2 AO folgende geänderte Einkommensteuerbescheide:
Bescheid v. 31.05.2013: Festsetzung der ESt 2011 auf 79 066,00 EUR
Bescheid v. 04.09.2013: Festsetzung der ESt 2011 auf 79 307,00 EUR
Bescheid v. 20.12.2013: Festsetzung der ESt 2011 auf 79 320,00 EUR
Bescheid v. 22.07.2014: Festsetzung der ESt 2011 auf 79 949,00 EUR
Bescheid v. 02.09.2014: Festsetzung der ESt 2011 auf 80 039,00 EUR
Mittels zweier Bescheide vom 16. Februar 2015 hob der Beklagte den Vor...