Entscheidungsstichwort (Thema)
Erleichterte Voraussetzungen für die Annahme der Nichtigkeit eines Einkommensteuer-Schätzbescheides. Einkommensteuer 1994
Leitsatz (amtlich)
1. In Abweichung von BFH vom 1.10.1992, IV R 34/90, BStBl. II 1993, 259ff., setzt die Nichtigkeit eines Schätzungsbescheides neben einem objektiv besonders schwerwiegenden Schätzungsfehler (z. B. Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten, der wirtschaftlichen Zusammenhänge oder eine nachlässige Vorgehensweise bei der Schätzung selbst) keine Subjekte Benachteilungsabsicht des Sachbearbeiters gegenüber dem Steuerpflichtigen voraus.
2. Für die Annahme der Nichtigkeit eines Schatzbescheides reicht es vielmehr aus, wenn die Finanzbehörde bei der Vornahme der Schätzung erkennbar einen völlig anderen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, als er sich aus den Steuerakten ergibt, sich die Schätzung als weit überhöht erweist und der Steuerpflichtige durch sein Verhalten diesen Fehler nicht veranlasst hat.
Normenkette
AO 1977 § 125 Abs. 1, §§ 162, 88
Nachgehend
Tenor
Der Einkommensteuerbescheid 1994 vom 30.10.1996 und die Einspruchsentscheidung vom 19.08.1997 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger betrieb ab 1991 in Nordrhein-Westfalen ein Gewerbe, dass das Feilbieten von Textilien und anderen Waren auf Märkten zum Gegenstand hatte. Anfang 1994 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz von L… nach M…. Ab 01.02.1994 führte der Kläger das Gewerbe gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, Frau Angelika B…, in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts fort. In einer vom 25.02.1994 datierenden Gewerbe-Ummeldung gab der Kläger gegenüber der Stadtverwaltung M… an, seinen Wohnsitz und die Betriebsstätte seines Unternehmens am 01.02.1994 von L…. nach M… verlegt zu haben. Sowohl sein Wohnsitz als auch die Betriebsstätte befänden sich in der N… Straße 55, M…. Eine Durchschrift dieser Gewerbe-Ummeldung wurde dem Beklagten am 23.03.1994 übermittelt. Auf dieser Durchschrift befindet sich der undatierte handschriftliche Vermerk „ist als GbR gelaufen”. Der Kläger erhielt die Steuernummer …/..9/..521 und wurde im Veranlagungsbezirk 5 geführt.
Bereits zuvor – im Februar 1994 – war beim Beklagten die steuerliche Anmeldung eines Unternehmens „A… und B…” eingegangen. Die Adresse des Unternehmens wurde mit N… Straße 55, M…, der Gegenstand des Unternehmens mit Textilienverkauf angegeben. Weiter heißt es in der Anmeldung unter der Rubrik „ein bestehendes Unternehmen wurde übernommen”: „A… Andreas”. Der Beginn der betrieblichen Tätigkeit wurde mit „01.02.1994” angegeben. Als Adresse beider Gesellschafter wurde die N… Straße Nr. 55, M…, genannt. Die A… und B… GbR (GbR) erhielt die Steuernummer …/..5/..958 und Wurde im Veranlagungsbezirk 3 geführt.
Aus einem der Einkommensteuerakte vorgehefteten Änderungsnachweis, der vom 11.01.1995 datiert und der die steuerlichen Grunddaten des Klägers enthält, geht im Hinblick auf die Umsatzsteuer (Kennbuchstabe „U”) unter anderem hervor, dass der Kläger ab 01.01.1993 vierteljährlich („ab 01.01.93 ges Zw 2”) und ab 01.01.1994 monatlich („ab 01.01.94 ges Zw 1”) Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben hatte und dass ab 01.02.1994 keine Umsatzsteuer-Überwachung mehr erfolgte („ab 01.02.94 ges Zw 0”). Unter die Zeile „ab 01.02.94 ges Zw 0” wurde handschriftlich der undatierte und nicht unterschriebene Vermerk „gelöscht” hinzugefügt.
Der Kläger gab nur für den Monat Januar des Streitjahres eine Umsatzsteuervoranmeldung ab (Umsatz Januar: 2.779 DM; Vorsteuern: 554 DM). Schätzungen für die Folgemonate nahm der Beklagte nicht vor.
Im Sommer 1995 führte der Beklagte eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der A… und B… GbR durch. Unter Tz. 9 des Betriebsprüfungsberichts vom 19.06.1995 führte die Prüferin aus, Gegenstand des Unternehmens sei der Handel mit Textilien auf Märkten gewesen; die Tätigkeit sei vom 01.02.1994 bis zum 30.03.1995 ausgeübt worden. Unter Tz. 13 heißt es weiter, die GbR habe „bei der Einbringung des Einzelunternehmens A… – StNr.: …/..9/.521 in die GbR” Verbindlichkeiten aus Warenlieferungen übernommen.
Der Kläger gab für das Streitjahr – wie bereits für das Jahr 1993 – zunächst keine Steuererklärungen ab. Im Juli 1996 ging die Umsatzsteuererklärung 1993 beim Beklagten ein (Umsatz: 188.750 DM; Vorsteuern: 26.802 DM). Im August 1996 wurde gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen und des damit verbundenen Verdachts der Steuerverkürzung eingeleitet. In seiner verantwortlichen Vernehmung vom 10.10.1996 sagte der Kläger ausweislich des Vernehmungsprotokolls aus, nach Auskunft seiner Steuerberaterin müssten die Umsatzsteuererklärungen 1993 und 1994 dem Beklagten ...