Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträglich erkannte Umsatzsteuerpflicht. Berücksichtigung von Verschulden, des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Neutralitätsgrundsatzes bei der Festsetzung von Nachzahlungszinsen. keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Zinshöhe
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Anwendung des § 233a AO sind die Ursachen und Begleitumstände im Einzelfall grundsätzlich unbeachtlich. Insbesondere ist ein Verschulden irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses.
2. Die in § 238 Abs. 1 AO festgelegte Zinshöhe von 0,5 v.H. pro Monat begegnet trotz der seit mehreren Jahren hiervon stark abweichenden Marktzinsen für Geldanlagen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
3. Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Festsetzung von Nachforderungszinsen grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn dem FA bei der Bearbeitung einer Steuererklärung Fehler unterlaufen sind.
4. Berichtigt der Unternehmer, der zunächst von der Steuerfreiheit seiner Leistung ausgegangen war, die Rechnung, nachdem sich die Steuerpflicht aufgrund der Feststellungen im Rahmen einer Betriebsprüfung herausgestellt hat, kann ein etwaiger Verstoß der Verzinsung des Nachforderungsbetrags gegen den Neutralitätsgrundsatz jedenfalls nicht im Festsetzungsverfahren berücksichtigt werden.
Normenkette
AO § 233a Abs. 1, 3, 5, § 238 Abs. 1, § 227; BGB § 242
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten sich über die Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 für den Verzinsungszeitraum 1. April 2006 (Umsatzsteuer 2004), 1. April 2007 (Umsatzsteuer 2005), 1. April 2008 (Umsatzsteuer 2006) sowie 1. April 2009 (Umsatzsteuer 2007) bis jeweils 29. April 2010.
Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 1. Juni 1990 gegründet. Gegenstand des Unternehmens ist ausweislich der Eintragungen im Handelsregister die Entwicklung, Herstellung, der Vertrieb von Förderanlagen und Baugruppen aller Art im Bereich Umwelttechnik. Die Klägerin vertreibt weltweit verschiedene Recyclingmaschinen.
Die Maschinen werden in der Regel über Zwischenhändler verkauft. Die Leistungsbeziehungen zwischen der Klägerin, den Händlern und dem Endkunden sind häufig im Rahmen eines Reihengeschäftes gestaltet.
Der Beklagte führte bei der Klägerin in der Zeit vom 6. Oktober 2009 bis Ende 2010 eine steuerliche Betriebsprüfung für die bereits unter dem Vorbehalt der Nachprüfung veranlagten Jahre 2004 bis 2007 durch. Der Zwischenbericht der Betriebsprüfung datiert auf den 1. April 2010. Die Betriebsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass der Klägerin in den Streitjahren 2004 bis 2007 bei bestimmten Reihengeschäften mit ausländischen Händlern die ruhende Lieferung zuzuordnen sei und daher keine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 Umsatzsteuergesetz (UStG) oder nach § 4 Nr. 1 die i.V.m. § 6a UStG in Anspruch genommen werden könne. Die insoweit bisher von der Klägerin als steuerfrei behandelten und erklärten Lieferungen seien umsatzsteuerpflichtig.
In Auswertung des Betriebsprüfungsberichtes erließ der Beklagte am 26. April 2010 gemäß § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) geänderte Bescheide über Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007, in denen er die Steuer entsprechend heraufsetzte. Gleichzeitig erließ der Beklagte mit den Umsatzsteuerbescheiden verbundene Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007.
In den Bescheiden vom 26. April 2010 berechnete der Beklagte die Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2004 bis 2007 wie folgt:
2004: |
590.350,00 EUR |
vom 1.04.2006 bis 29.04.2010 = |
48 Monate × 0,5 v.H. = |
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141.684,00 EUR |
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2005: |
620.850,00 EUR |
vom 1.04.2007 bis 29.04.2010= |
36 Monate × 0,5 v.H. = |
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111.753,00 EUR |
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2006: |
891.600,00 EUR |
vom 1.04.2008 bis 29.04.2010= |
24 Monate × 0,5 v.H. = |
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106.992,00 EUR |
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2007: |
1.084.250,00 EUR |
vom 1.04.2009 bis 29.04.2010= |
12 Monate × 0,5 v.H. = |
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65.055,00 EUR |
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Mit Schreiben vom 28. Mai 2010 legte die Klägerin sowohl gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 als auch gegen die Bescheide über die Festsetzung von Zinsen zur Umsatzsteuer für 2004 bis 2007 vom 26. April 2010 Einspruch ein.
Zur Begründung führte sie aus, dass sie die Feststellungen der Betriebsprüfung umgehend in berichtigten Rechnungen an die ausländischen Händler umgesetzt habe. Die betreffenden Rechnungen im Prüfungszeitraum seien pro Jahr korrigiert worden. Die jeweilige Korrekturmeldung (Gutschrift) enthalte eine Anlage mit detaillierten Angaben der betreffenden Rechnungen und die neuen Rechnungen seien mit gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer erteilt worden. Die korrigierten Rechnungen seien in der Umsatzsteuervoranmeldung für April 2010 berücksichtigt worden. Die Leistungsempfänger (Händler) hätten bei dem Bundeszentralamt für Steuern Anträge auf Vergütung der deutschen Vorsteuer gestellt. In diesem Zusammenhang sei zudem die Abtretung des Vergütungs...