Entscheidungsstichwort (Thema)
Verschulden nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bei Verletzung der Erklärungspflichten wegen Krankheit einer Hilfsperson
Leitsatz (redaktionell)
Hat die im Zeitraum des Ablaufs der Einspruchsfrist zunächst unbemerkt an einer Depression erkrankte Ehefrau die Behördenangelegenheiten der Ehegatten bisher stets zuverlässig erledigt und verhindert die Erkrankung nach Therapeutenansicht häufig die Erledigung der Post und damit die rechtzeitige Einlegung eines Einspruchs gegen den Kindergeldaufhebungsbescheid, steht der Änderung des bestandskräftigen Bescheids nicht grobes Verschulden gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO entgegen.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 44 Abs. 2, § 150; EstG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a
Tenor
Der Bescheid vom 1. April 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. August 2011 wird dahingehend geändert, dass die Beklagte verpflichtet wird, dem Kläger für seinen Sohn B für den Zeitraum September 2008 bis März 2010 zu bewilligen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Der Gerichtsbescheid ist, sofern er als Urteil wirkt, hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit leistet.
Tatbestand
Streitig ist die Frage, ob dem Kläger trotz eines bestandskräftigen Bescheides betreffend die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung Kindergeld zusteht.
Der Kläger ist der Vater dreier Söhne (S, J und B). Mit Schreiben vom 2. Februar 2010 (KiG, Bl. 131) wandte sich die Beklagte an den Kläger. Sie führte an, der Kläger habe möglicherweise keinen Anspruch auf Kindergeld für B mehr, weil dieser nach Aktenlage seine Schulausbildung beendet bzw. abgebrochen habe. Nachdem dieses Schreiben seitens des Klägers nicht beantwortet worden war, hob die Beklagte mit Bescheid vom 18. März 2010 (KiG, Bl. 137) die Festsetzung des Kindergeldes für B ab September 2008 auf. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Nachdem seitens des Klägers Ende 2010 Ausbildungsnachweise betreffend seine Kinder eingereicht worden waren (KiG, Bl. 142 ff.), setzte die Beklagte mit Bescheid vom 1. April 2011 Kindergeld für B (erst) für den Zeitraum April bis September 2010 fest (KiG, Bl. 177). Dabei ging die Beklagte davon aus, dass einer darüber hinaus gehenden Berücksichtigung von B (auch für den Zeitraum September 2008 bis März 2010) die Bestandskraft des Bescheides vom 18. März 2010 (KiG, Bl. 137) entgegen stehe (KiG, Bl. 174).
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 29. April 2011 Einspruch ein (KiG, Bl. 181). Er gab an (KiG, Bl. 220 ff.), seine Frau, die sich um sämtliche familiären Verwaltungsangelegenheiten gekümmert habe, sei „in jüngster Vergangenheit” (KiG, Bl. 221) an einer Depression erkrankt gewesen. Er selbst habe sich auch in Angelegenheiten der Familienkasse auf seine Frau verlassen. Da er von deren Erkrankung nichts bemerkt habe, habe auch kein Anlass für ihn bestanden einzugreifen. Erst durch eine Vollstreckungsankündigung der Beklagten im Juli 2010 sei das Problem offenkundig geworden. Alsdann seien sämtliche Nachweise betreffend B's Ausbildung unverzüglich eingereicht worden.
Mit Einspruchsentscheidung vom 11. August 2011 (KiG, Bl. 236 ff.) wies die Beklagte den Einspruch des Klägers vom 29. April 2011 unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheides vom 18. März 2010 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 14. September 2011 Klage erhoben (Bl. 1).
Der Kläger beantragt sinngemäß (Bl. 18),
den Bescheid vom 1. April 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. August 2011 dahingehend zu ändern, dass ihm Kindergeld für seinen Sohn B für den Zeitraum September 2008 bis März 2010 bewilligt wird.
Der Kläger macht geltend, ihm sei nicht der Vorwurf groben Verschuldens zu machen gewesen. Ihm habe die Erkrankung seiner Ehefrau nicht auffallen müssen.
Die Beklagte beantragt (Bl. 25),
die Klage abzuweisen.
Den Kläger treffe der Vorwurf groben Verschuldens. Die Krankheit seiner Ehefrau könne ihn nicht entlasten (Bl. 43).
Der Berichterstatter hat die die Ehefrau des Klägers behandelnden Therapeuten um ihre Einschätzung dazu gebeten (Bl. 37), ob Frau A aufgrund ihrer diagnostizierten psychischen Erkrankung in der Lage war, gegen einen ihr vorliegenden Bescheid der Beklagten Einspruch einzulegen. Auf die Rückäußerungen von Frau Dipl. Psychologin K vom 8. Mai 2012 (Bl. 39) und Herrn Dr. D vom 22. Mai 2012 (Bl. 40) wird Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Bewilligung des Kindergeldes (auch) für den streitigen Zeitraum stand die Bestandskraft des Bescheides vom 18. März 2010 nicht entgegen.
1. Der Umfang der Bindungswirkung eines Bescheides ergibt sich aus seinem Regelungsgehalt. Als Verwaltungsakt trifft er eine Regelung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bescheiderteilung. E...