Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsführerhaftung: Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist – Bindungswirkung eines Aufhebungsbescheids – Erlass eines erneuten Haftungsbescheids auf abweichender Sachverhaltsgrundlage
Leitsatz (redaktionell)
- Der Anlauf der Festsetzungsfrist wird gegenüber einem Haftungsschuldner nicht gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt, wenn nur der Steuerschuldner gesetzlich verpflichtet ist, eine Steuererklärung abzugeben (Abgrenzung zum BFH-Urteil vom 15.01.2015 I R 33/13, BFH/NV 2015, 797, betr. die Haftung eines sog. Entrichtungsschuldners).
- Nach Aufhebung eines gemäß § 69 AO auf die grob fahrlässig unterlassene Erfüllung steuerlicher Pflichten des Geschäftsführers einer GmbH gestützten Haftungsbescheids kann gegen den Haftungsschuldner ein auf vorsätzliche Steuerhinterziehung gestützter erneuter Haftungsbescheid § 71 AO ergehen, ohne dass es auf die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte ankommt.
- Ein solcher Aufhebungsbescheid kann nur dann Vertrauensschutz begründen, wenn der Haftungsschuldner aus dessen Inhalt oder den Begleitumständen entnehmen konnte, dass er nicht erneut in Anspruch genommen werden solle.
Normenkette
AO § 34 Abs. 1 S. 1, §§ 69, 71, 130 Abs. 2, § 150 Abs. 1 S. 3, § 169 Abs. 1 S. 1, § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 191 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 S. 1; GG Art. 20 Abs. 3
Streitjahr(e)
2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner für Steuerrückstände der Firma I. A. GmbH (in Liquidation) --I.--.
Gegenstand der am 02.01.2002 gegründeten I. war der Transport von ...Gütern sowie der Baustoffgroßhandel. Der Kläger war mit Vertrag vom 00.00.2003 zum Geschäftsführer der I. bestellt worden.
Wie in den Vorjahren wurden in den Jahren 2006 bis 2011 für die I. keine Steuererklärungen abgegeben. Der Beklagte nahm deshalb Vollschätzungen der Besteuerungsgrundlagen vor. Die Bescheide ergingen jeweils gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung --AO-- unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
VZ |
Bescheid |
Datum |
Festgesetzt in € |
Leistungsgebot unter Anrechnung bereits gezahlter Beträge |
2006 |
Umsatzsteuer |
09.01.2009 |
23.400,00 € |
12.896,61 € |
|
Zinsen zur USt |
|
578,00 € |
578,00 € |
2007 |
Umsatzsteuer |
28.04.2011 |
-33.650,00 € |
4.980,03 € |
|
Zinsen zur USt |
|
618,00 € |
618,00 € |
2008 |
Umsatzsteuer |
02.03.2012 |
95.000,00 € |
5.683,16 € |
|
Zinsen zur USt |
|
649,00 € |
649,00 € |
2009 |
Umsatzsteuer |
02.03.2012 |
135.500,00 € |
4.458,30 € |
|
Zinsen zur USt |
|
244,00 € |
244,00 € |
2010 |
Umsatzsteuer |
02.03.2012 |
68.000,00 € |
4.301,53 € |
|
Körperschaft-steuer |
02.03.2012 |
3.000,00 € |
3.000,00 € |
|
Solidaritätszuschlag |
|
165,00 € |
165,00 € |
2011 |
Umsatzsteuer |
30.10.2014 |
104.296,20 € |
447,26 € |
|
Zinsen zur USt |
30.10.2014 |
38,00 € |
38,00 € |
In den Erläuterungen zu den Bescheiden wurde wie in den Vorjahren jeweils auf die fortbestehende Verpflichtung zur Abgabe von Steuererklärungen hingewiesen. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass trotz der Schätzung eine Steuerstraftat / Steuerordnungswidrigkeit vorliegen könne.
Die ordnungsgemäßen Bilanzen wurden zu folgenden Zeitpunkten erstellt:
2006 |
20.06.2008 |
2007 |
19.08.2009 |
2008 |
28.10.2011 |
2009 |
28.10.2011 |
2010 |
21.12.2011 |
2011 |
23.05.2013 |
Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen zum 31.12.2006 nach dem Jahresabschluss 115.710,45 €.
Der Jahresabschluss 2007 wurde unter anderem vom Kläger am 21.08.2009 festgestellt. Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen danach zum 31.12.2007 368.070,49 €.
Der Jahresabschluss 2008 wurde unter anderem vom Kläger am 03.11.2011 festgestellt. Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen danach zum 31.12.2008 417.900,29 €.
Der Jahresabschluss 2009 wurde unter anderem vom Kläger am 03.11.2011 festgestellt. Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen danach zum 31.12.2009 332.928,28 €.
Der Jahresabschluss 2010 wurde unter anderem vom Kläger am 28.12.2011 festgestellt. Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen danach zum 31.12.2010 408.038,02 €.
Der Jahresabschluss 2011 wurde unter anderem vom Kläger am 29.05.2013 festgestellt. Die Verbindlichkeiten aus Steuern betrugen danach zum 31.12.2011 447.220,19 €.
Am 07.10.2014 leitete das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung K. gegen den Kläger wegen der Nichtabgabe von Erklärungen ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftsteuer der Jahre 2007 bis 2012 ein.
Unter dem 30.10.2014 ordnete der Beklagte gegenüber der I. eine steuerliche Außenprüfung für die Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer für die Jahre 2006 bis 2012 an. Am Tag des Prüfungsbeginns, dem 26.01.2015 reichte die I. ordnungsgemäße Steuererklärungen für die bislang geschätzten Veranlagungszeiträume ein. Die Schlussbesprechung der steuerlichen Außenprüfung erfolgte am 29.01.2015.
Der Beklagte änderte daraufhin die Bescheide gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 AO und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
VZ |
Bescheid |
Datum |
Festgesetzt in € |
L... |