vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines EU-Ausländers: Bezug von Arbeitslosengeld II als Darlehen – Unionsrechtskonforme Auslegung des Begriffs der ausreichenden Existenzmittel. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: III R 16/23)
Leitsatz (redaktionell)
Ein nicht erwerbstätiger Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der EU verfügt bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 4 S. 1 FreizügG/EU auch dann über die für seine Freizügigkeitsberechtigung vorauszusetzenden ausreichenden Existenzmittel und hat daher ab dem vierten Monat ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Hinblick auf die nicht sofort mögliche Verwertbarkeit seines Vermögens zur Sicherung des Lebensunterhalts Arbeitslosengeld II als Darlehen bezieht.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1a; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 S. 1; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Buchst. b; SGB II §§ 12, 19 Abs. 1 S. 1, § 24 Abs. 5 S. 1, § 42a; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 S. 2, Abs. 3 Buchst. b
Tatbestand
Streitig ist der Kindergeldanspruch der Klägerin für ihre beiden Töchter im Zeitraum von April 2020 und bis Mai 2021.
Die Klägerin ist portugiesische Staatsangehörige und Mutter der im August 2015 geborenen A und der im April 2019 geborenen B . Sie war bis 2015 nichtselbständig tätig. Seither ist sie nicht erwerbstätig.
Der leibliche Vater beider Kinder, C , ist deutscher Staatsangehöriger, wohnt in den Niederlanden und ist dort selbständig erwerbstätig. Er bezog zunächst mit dem Kindergeld vergleichbare Leistungen in den Niederlanden für beide Töchter. Die niederländische Sozialversicherungsbank (Sociale Verzekeringsbank - SVB) stellte die Zahlungen zum 01. April 2020 mangels „Kooperation“ des Kindesvaters ein.
Die Klägerin und der Kindesvater erwarben als Miteigentümer eine in den Niederlanden belegene Immobilie in Z-Stadt, Straße XXX , die sie gemeinsam mit den Kindern bewohnten. Im Januar 2020 trennten sie sich. Die Klägerin zog mit den Kindern zu ihrem Vater nach Y-Stadt (Deutschland) in die von ihm gemietete Wohnung Straße XXX . Ein Entgelt hierfür zahlte sie nicht. Ende Januar 2021 zog der Vater der Klägerin aus der gemeinsam genutzten Wohnung aus. Die Klägerin schloss ab Anfang Februar 2021 den Mietvertrag über die Wohnung Straße XXX in Y-Stadt selbst ab.
Die Klägerin bezog ab Januar 2020 Arbeitslosengeld II. Die Leistungen wurden im Hinblick auf ihren Miteigentumsanteil an dem Objekt in den Niederlanden zunächst als Darlehen gewährt, ab Januar 2022 als laufende passive Leistungen. Außerdem bezog sie ab Januar 2020 Elterngeld. Der Träger der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II macht einen Erstattungsanspruch gem. § 104 SGB X geltend.
Der Kindesvater und die Klägerin verständigten sich im Jahr 2021 über die Auseinandersetzung der Miteigentumsgemeinschaft. Danach sollte die Klägerin…€ von ihm erhalten.
Die Klägerin beantragte unter dem 00 . Januar 2020 für ihre beiden Töchter Kindergeld bei der Beklagten und wies einen Krankenversicherungsschutz bei der Krankenkasse nach.
Die Beklagte lehnte die Anträge u.a. mit Bescheiden vom 18. März 2021 für die Zeit ab April 2020 unter Hinweis auf § 62 Abs. 1a S. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) ab.
Im Einzelnen führte sie aus, dass in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union (EU) ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten könnten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU als erfüllt ansehe. Die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des FreizügG/EU seien vorliegend nicht gegeben.
Die Klägerin legte hiergegen Einsprüche ein.
Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG i.V.m. § 4 FreizügG/EU vorlägen. Insbesondere stünden ihr ausreichende Existenzmittel zur Verfügung. Zwar beziehe sie Leistungen nach dem SGB II, allerdings nicht als laufende Leistungen, sondern als Darlehen. Hintergrund sei ihr Miteigentumsanteil an der niederländischen Immobilie. Bisher sei keine Verwertung möglich gewesen. Sie verwies auf die Einigung mit dem Kindesvater über eine Auseinandersetzung. Zu einer Auszahlung sei es aber noch nicht gekommen. Dieser Vermögenswert in den Niederlanden sei einzusetzendes Vermögen im Sinne des SGB II. Damit seien die Leistungen nach dem SGB II vollständig als Darlehen gewährt worden und keine nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewährenden Mittel.
Die Beklagte wies die Einsprüche nach Anhörung mit Entscheidungen vom 19. Mai 2021 als unbegründet zurück.
Voraussetzung für einen Anspruch auf Kindergeld von nicht erwerbstätigen Personen nach § 4 S. 1 FreizügG/EU seien ein ausreichender Kr...