Rechtskräftig; Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet durch BFH Beschluss VII B 168/22 vom 7. 8. 2024
Entscheidungsstichwort (Thema)
Marktordnungsrecht/Abgabenordnung: Zinsen auf erstattete Sanktionen und verzögert ausbezahlte Ausfuhrerstattungen
Leitsatz (amtlich)
1. Die vom EuGH entwickelten unionsrechtlichen Grundsätze über den Anspruch Wirtschaftsbeteiligter auf Erstattung von Geldbeträgen, zu deren Zahlung sie von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht herangezogen werden, sowie auf Verzinsung dieser Beträge, sind dahin auszulegen, dass diese Grundsätze erstens anwendbar sind, wenn die fraglichen Geldbeträge zum einen Ausfuhrerstattungen, die einem Wirtschaftsbeteiligten zunächst unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt und dann verspätet gezahlt wurden, und zum anderen einer finanziellen Sanktion entsprechen, die gegen ihn aufgrund dieses Verstoßes verhängt wurde (EuGH, Urteil vom 28.04.2022, C-425/20, Rn. 85, 1. Spiegelstrich).
2. Diese Grundsätze sind auch anwendbar, wenn sich aus einer Entscheidung des EuGH oder eines nationalen Gerichts ergibt, dass aufgrund einer unzutreffenden Auslegung oder einer fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts die Zahlung von Ausfuhrerstattungen von einer nationalen Behörde versagt bzw. die Zahlung einer finanziellen Sanktion eingefordert worden ist (EuGH, a.a.O., Rn. 85, 2. Spiegelstrich).
3. Die in § 236 AO angelegte Beschränkung des Zinsanspruchs betreffend Erstattungsbeträge auf den Zeitraum ab Einlegung des gerichtlichen Rechtsbehelfs bis zum Tag der Entscheidung des Gerichts ist mit den vom EuGH entwickelten unionsrechtlichen Grundsätzen unvereinbar mit der Konsequenz, dass diese Vorschrift keine Anwendung findet.
4. Der Wirtschaftsbeteiligte kann Zinsen auch für den Zeitraum beanspruchen und erlangen, der zwischen dem Tag, an dem der fragliche Betrag hätte gezahlt werden müssen bzw. an dem der Geldbetrag an den betreffenden Mitgliedstaat entrichtet wurde, und dem Tag der Einlegung eines solchen (= gerichtlichen) Rechtsbehelfs liegt.
5. Dem Wirtschaftsbeteiligten wird die Ausübung seiner nach dem Unionsrecht verliehenen Rechte übermäßig erschwert, wenn ihm der Zinsanspruch unter Hinweis darauf versagt wird, dass er keinen gerichtlichen Rechtsbehelf auf Zahlung der ihm versagten Ausfuhrerstattung bzw. auf Erstattung der von ihm entrichteten Sanktion eingelegt habe, obgleich er die Initiative ergriffen und Einspruch eingelegt hat.
Normenkette
AO § 236
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Zinsen für zu Unrecht nicht gewährte Ausfuhrerstattungen sowie zu Unrecht festgesetzte Sanktionen.
Die Klägerin führte Geflügelschlachtkörper in Drittländer aus. Im Zeitraum zwischen Januar und Juni 2012 versagte das beklagte Hauptzollamt der Klägerin für die ausgeführten Waren die Gewährung von Ausfuhrerstattungen unter Hinweis darauf, dass die ausgeführten Erzeugnisse nicht von handelsüblicher Qualität seien, weil die Geflügelschlachtkörper nicht vollständig gerupft gewesen seien bzw. zu viele Innereien aufgewiesen hätten (vgl. zu den Einzelheiten u.a. FG Hamburg, Urteile vom 18.02.2014, 4 K 18/12 bzw. 4 K 264/11), und setzte gegenüber der Klägerin zudem eine Sanktion mit der Begründung fest, dass sie eine höhere als ihr zustehende Ausfuhrerstattung beantragt habe.
Nachdem das Finanzgericht Hamburg auf der Grundlage der eingeholten Vorabentscheidungsersuchen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 24.11.2011 (verbundene Rechtssachen C-323/10 bis C-326/10) entschieden hatte, dass das Vorhandensein von wenigen Federn nicht erstattungsschädlich sei (FG Hamburg, Urteile vom 18.02.2014, 4 K 18/12 bzw. 4 K 264/11) bzw. dass dem Schlachtkörper insgesamt bis zu vier der dort bezeichneten Innereien beigelegt sein dürften, half das beklagte Hauptzollamt den Einsprüchen der Klägerin in der Weise ab, dass die beantragten Ausfuhrerstattungen gewährt und die festgesetzten Sanktionen erstattet wurden.
Mit Schreiben vom 16.04.2015 beantragte die Klägerin beim beklagten Hauptzollamt für die in der Vergangenheit zu Unrecht nicht gewährten Ausfuhrerstattungen und die zu Unrecht festgesetzten Sanktionen die Gewährung von Zinsen für den Zeitraum der vorenthaltenen Erstattungen bzw. festgesetzten Sanktionen, was das beklagte Hauptzollamt mit Bescheid vom 22.07.2015 ablehnte. Ihren hiergegen gerichteten Einspruch wies das beklagte Hauptzollamt mit Einspruchsentscheidung vom 18.04.2018 zurück.
Mit ihrer am 23.05.2018 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren fort.
Mit Beschluss vom 20.08.2020 hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Auslegung von Handlungen der Organe der Union im Wege der Vorabentscheidung vorgelegt
1. Besteht die unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zuzüglich Zinsen zu erstatten, auch in Fällen, in denen der Grund für die Erstattung nicht ein vom Gerichtshof der Europäischen Union f...