rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für behindertes Kind bei Gendefekt
Leitsatz (redaktionell)
Ein aufgrund eines Gendefekts behindertes Kind kann gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nur dann berücksichtigt werden, wenn die feststellbaren Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen bereits vor Erreichen der Altersgrenze von 25 Jahren (vormals 27 Jahren) eingetreten waren.
Normenkette
EStG §§ 63, 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 52 Abs. 40 S. 5, § 62 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger begehrt für seine am ….08.1968 geborene Tochter A die Gewährung von Kindergeld.
Frau A leidet an einer Muskelerkrankung im Sinne einer so genannten Myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert (G71.1 der ICD-10-WHO Version 2019). Hierbei handelt es sich um eine erbliche Muskelerkrankung, bei der es zu einer langsam fortschreitenden Abnahme der Muskelkraft bei gleichzeitigem Vorliegen von so genannten myotonen Phänomenen kommt. Als myotone Phänomene bezeichnet man das Auftreten von Muskelsteifigkeit, z.B. beim festen Zupacken. Erste Symptome dieser Krankheit traten bei Frau A – so die Angaben im ersten Rechtsgang – bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren auf. So gab es Probleme beim Laufen sowie beim Aufstehen aus der Hocke und es traten gelegentlich Versteifungen in ihrer Handmuskulatur auf. Die Erkrankung wurde aber zunächst nicht erkannt, Behandlungsversuche z.B. durch einen Orthopäden blieben erfolglos. Diagnostiziert wurde die Krankheit erst 1998, als eine Cousine von Frau A ein stark behindertes Kind zur Welt brachte und sich daraufhin mehrere Familienmitglieder, unter anderem auch sie, einer gentechnischen Untersuchung unterzogen. In den folgenden Jahren verstärkten sich die Symptome, insbesondere die Muskelschwäche in den Beinen. Ihr seit Juni 2005 gültiger Schwerbehindertenausweis wies zunächst einen Grad der Behinderung von 50% verbunden mit den Merkzeichen G, aus. Seit März 2009 beträgt der Grad der Behinderung 100%, verbunden mit den Merkzeichen G und aG.
Frau A besuchte bis 1988 das Gymnasium, das sie nach der 12. Klasse, die sie wegen einer „fünf” im Leistungskurs Biologie und in Mathematik wiederholen musste, mit dem Fachabitur verließ. Von 1988 bis 1990 besuchte sie die Höhere Handelsschule. Im Anschluss absolvierte sie zweieinhalb Jahre lang bei der Uniklinik in Köln eine Ausbildung zur Bürokauffrau, die sie mit der Note „gut” abschloss. Sie war dann 4 bis 5 Jahre lang an der Uniklinik beschäftigt, dann bei den Firmen Z (Gastronomie) und Y. Zuletzt war sie ab dem 01.07.2001 bei der Firma B tätig. Dort war sie für die Betreuung der Kunden bei deren Besuchen in der Firma zuständig, insbesondere auch für das jeweilige Rahmenprogramm; seit 2007 war sie nur noch im Empfang tätig. Ihr Arbeitsverhältnis endete zum 31.05.2010 durch eine betriebsbedingte Kündigung. Die in der Folgezeit unternommenen Bewerbungen führten im September 2011 zu einer Einstellung bei der Firma G. Dort wurde ihr nach sieben Tagen gekündigt, weil sie – so ihr Vortrag – die ihr übertragenen Aufgaben aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht habe erfüllen können. Im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme wurde ihr die Stellung eines Rentenantrags empfohlen, infolgedessen ihr durch Bescheid vom 22.08.2012 rückwirkend ab 01.10.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt wurde. Bis auf eine in der Zeit vom 16.08.2012 bis zum 15.08.2013 im Rahmen des „Generationsübergreifenden Freiwilligendienstes” der K ausgeübte freiwillige soziale Tätigkeit, für die sie eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 165 € erhielt, ist Frau A seitdem nicht mehr beruflich tätig.
Mit Antrag vom 11.08.2014 begehrte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für seine Tochter für die Zeit ab Januar 2010. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24.10.2014 ab mit der Begründung, dass die Behinderung der Tochter nicht, wie von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gefordert, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 19.03.2015 als unbegründet zurück. Der Zustand der Behinderung sei bei der Tochter des Klägers wesentlich später als mit 27 Jahren eingetreten. Zwar sei sie mit einem Gendefekt geboren, dieser habe aber erst wesentlich später zu einer Behinderung im Sinne der genannten Vorschrift mit der Folge einer Beeinträchtigung der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft geführt.
Der hiergegen erhobene Klage hat der erkennende Senat für die nach Erörterung verbliebenen Monate, in denen der notwendige Lebensbedarf von Frau A nicht durch die ihr zur Verfügung stehenden Mittel abgedeckt wurde, durch Urteil vom 12.02.2017 statt gegeben mit der Begründung, dass es sich bei der Erkrankung von Frau A um einen Gendefekt handele, der von Geburt an vorgelegen habe, der lediglich erst später diagnostiziert worden sei. Damit sei im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten. Lediglich die dadurch bedingte Unfähigkei...