Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen bei Verletzung des subjektiven Nettoprinzips. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: IX R 18/23)
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Begriff der Unbilligkeit in § 163 AO ist derselbe wie in § 227 AO.
2. Wenn bei einer Ermessensentscheidung eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, kann die begehrte Verpflichtung zum Bescheiderlass nur ausgesprochen werden, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf die erstrebte Verpflichtung besteht.
3. Sachliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage, wenn er sie denn geregelt hätte, im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte.
4. Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen kann eine Grundrechtsverletzung unter Feststellung einer sog. Typengerechtigkeit im Allgemeinen zu verneinen und gleichwohl im Einzelfall die Anwendung eines generell verfassungsmäßigen Gesetzes unbillig sein.
5. Die Rechtsgemeinschaft muss es zumindest dann, wenn sie die Gewinne hochspekulativer Tätigkeiten mit Wettcharakter besteuert, auch ertragen, sich zumindest insoweit an den Verlusten des Steuerpflichtigen zu „beteiligen”, als diesem aus seiner steuerrelevanten Tätigkeit noch das Existenzminimum im jeweiligen Veranlagungszeitraum steuerfrei verbleibt.
6. Wenn sich im Einzelfall in einem und demselben Veranlagungszeitraum ergibt, dass der Steuerpflichtige dergestalt hohe Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften (hier: Glattstellungsgeschäfte im Rahmen von Stillhaltergeschäften) erlitten hat, dass durch die Gesamtsteuerbelastung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag das Existenzminimum tangiert wird, liegt eine Grundrechtsverletzung in Form der Verletzung des subjektiven Nettoprinzips vor und das Ermessen der Finanzbehörde ist im Hinblick auf eine Billigkeitsmaßnahme auf Null reduziert.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; AO § 163; FG § 102; EStG § 2 Abs. 7, § 22 Nrn. 2-3; GG Art. 1 Abs. 1
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob durch die Besteuerung der Klägerin für das Streitjahr 2002 unzulässig in deren Existenzminimum eingegriffen wird und ihr deshalb ein Anspruch auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO) zusteht.
Die Klägerin bezog im Jahr 2002 Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit als …. Ferner bezog sie Einkünfte aus selbständiger Arbeit, aus Gewerbebetrieb sowie Kapitaleinkünfte und insbesondere Vermietungseinkünfte …. Der Gesamtbetrag der Einkünfte betrug rd. 520.000 €.
Darüber hinaus erlitt die Klägerin in 2002 ausweislich des Einkommensteuer-Änderungsbescheides vom 3.11.2010 bzw. des geänderten Bescheides über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2002 vom 17.12.2010 Verluste aus Leistungen in Form von Stillhalter- bzw. Optionsgeschäften i.H.v. 393.186 € und aus anderen privaten Veräußerungsgeschäften i.H.v. 33.041 € (vgl. Bl. 5 des Schreibens vom 1.2.2021 sowie die Zusammenstellung im Anschluss an das ergänzende Schreiben vom 14.2.2021). Bei der Ermittlung der Einkünfte aus Stillhaltergeschäften wurden als Aufwendungen neben den von der Klägerin im Rahmen der Stillhaltergeschäfte beglichenen Schulden aus den Glattstellungsgeschäften auch Schuldzinsen aus Darlehen berücksichtigt, welche die Klägerin zur Begleichung der Schulden aus den Glattstellungsgeschäften aufnehmen musste. Nach dem Gang der mündlichen Verhandlung ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass insbesondere die liquiden Geldabflüsse, die die Klägerin im Streitjahr 2002 im Rahmen der Glattstellungsgeschäfte an die Banken zu leisten hatte, zu den inzwischen unstreitigen Verlusten aus § 22 Nr. 3 EStG i.H.v. 393.186 € geführt haben. Den Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften liegen im Wesentlichen Beteiligungsverkäufe zugrunde und – nach der ergänzenden Erläuterung der Klägerin im Schreiben vom 18.4.2023 – auch Veräußerungsverluste i.H.v. … € (nach Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens) aus von der Klägerin selbst getätigten Aktiengeschäften.
Wegen der Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 22 Nr. 3 Sätze 3 und 4 und § 23 Abs. 3 Sätze 8 und 9 Einkommensteuergesetz (EStG) erfolgte keine Verrechnung mit den positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten. Die lt. Einkommensteuer-Änderungsbescheid vom 3.11.2010 festgesetzte Gesamtsteuerbelastung der Klägerin aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag betrug rd. … €. Mit Bescheid vom 17.12.2010 erfolgte eine Verlustfeststellung auf den 31.12.2002, mit welcher die erlittenen Verluste dem jeweiligen Verlustverrechnungskreis zugeordnet und der verbleibende Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 EStG für die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften auf … € bzw. für die Einkünfte aus Leistungen auf ...