rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn der Festsetzungsfrist zur Änderung eines bestandskräftigen Investitionszulagebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bei erstmals infolge einer Verschiebung der Wertschöpfungsanteile nicht mehr überwiegend zum verarbeitenden Gewerbe gehörenden Betrieb
Leitsatz (redaktionell)
1. Liegt die Wertschöpfungsquote in einem Jahr erstmals nicht mehr überwiegend beim verarbeitenden Gewerbe (im Streitfall: Futterherstellung) und liegt deswegen kein Betrieb des verarbeitenden Gewerbes im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InvZulG 2010 mehr vor, dann ist die Verschiebung der Wertschöpfungsanteile in diesem Jahr das maßgebliche „Ereignis” für eine Änderung des bestandskräftigen Investitionszulagenbescheids im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
2. Überwiegt in den Folgejahren weiter das nicht verarbeitende Gewerbe, so ist in den Folgejahren nicht von einem rückwirkenden Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auszugehen. Maßgebliches „Ereignis” ist die Verschiebung der Wertschöpfungsanteile, durch die ein Betrieb seine Eigenschaft als „verarbeitend” verliert. Der Fortbestand eines – weiterhin – nicht verarbeitenden Betriebes kann nicht als „Ereignis” eingeordnet werden (Abgrenzung zur BFH-Rechtsprechung zu den Verbleibensvoraussetzungen nach dem Berlinförderungsgesetz).
3. Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO enthält nach ihrem klaren Wortlaut eine Regelung zum Beginn der Festsetzungsfrist, nicht dagegen zur Hemmung der Verjährung.
Normenkette
AO § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1, § 155 Abs. 5; InvZulG 2010 § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 14 S. 1
Tenor
Der Bescheid vom 27.11.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.04.2020 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Diese Entscheidung ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Änderung eines Investitionszulagenbescheides.
1.
Die Klägerin betreibt – und betrieb bereits im Streitjahr 2011 – in der Rechtsform einer GmbH ein Unternehmen, das im Bereich der Futtermittelproduktion und des Futtermittelhandels tätig ist.
Mit Schreiben vom 21.06.2012 beantragte die Klägerin eine Investitionszulage für das Kalenderjahr 2011 in Höhe von EUR 133.235,60. Sie gab an, dass ihr Betrieb nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008, zum verarbeitenden Gewerbe gehöre. Beantragt wurde die Zulage für die folgenden Erstinvestitionsvorhaben: Erweiterung Fuhrpark, Anschaffung Photovoltaik, Erweiterung Maschinen und Anlagen. Zum Beginn und zum voraussichtlichen Abschluss des Vorhabens wurden keine Angaben gemacht.
Das Finanzamt bat die Klägerin mit Schreiben vom 27.06.2012, bestimmte, bisher fehlende Angaben nachzureichen. Dem kam die Klägerin nach, indem sie den ergänzend ausgefüllten Antrag am 05.07.2012 erneut einreichte. Unter „Genaue Bezeichnung der ausgeübten Tätigkeiten” war jetzt eingetragen: „Herstellung von Futtermitteln und Handel”. Bei Punkt 39 war jetzt angekreuzt: „Die beweglichen Wirtschaftsgüter werden mindestens fünf Jahre nach Abschluss des Erstinvestitionsvorhabens in einer Betriebsstätte meines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes oder eines mit diesem verbundenen Unternehmens, das ebenfalls zu den begünstigten Wirtschaftszweigen gehört, im Fördergebiet verbleiben.”
Im Anschluss daran wurde bei der Klägerin eine Investitionszulagen-Sonderprüfung durchgeführt, die zu einer geringfügigen Kürzung führte. Auf den Prüfungsbericht vom 20.07.2012, Investitionszulagenakte Bl. 20, wird verwiesen. Der Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 06.08.2012 eine Investitionszulage in Höhe von EUR 129.900. Die Festsetzung erfolgte ohne Vorbehalt der Nachprüfung und ohne Vorläufigkeit.
Mit Schreiben vom 22.03.2014 wandte sich ein mit der Klägerin im Wettbewerb stehendes Unternehmen an das Finanzministerium Schwerin und beanstandete unter anderem, dass der Klägerin Investitionszulagen bewilligt worden seien. In dem Schreiben wurde die Frage aufgeworfen, ob bei der Klägerin überhaupt ein Produktionsbetrieb vorliege; der Einkauf und Verkauf von Futter falle nicht unter Produktion. Es sei auch fraglich wie eine Produktion vorliegen könne, wenn der Lkw der Klägerin die Ware beim Lieferanten abhole und unmittelbar zum Kunden bringe.
Ab dem Jahr 2017 wurde bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durchgeführt, die zunächst die Investitionszulage 2012 und Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer 2012 bis 2014 zum Gegenstand hatte. Eine im Rahmen dieser Prüfung am 07.05.2018 erstellte Wertschöpfungsberechnung für 2014 ergab, dass 51,11 % der erzielten Überschüsse auf das nichtverarbeitende Gewerbe entfielen.
Der Beklagte erweiterte den Prüfungszeitraum am 19.06.20...