Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Verlustabzugsbeschränkung nach § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG ernstlich zweifelhaft. Aussetzung der Vollziehung setzt besonderes Aussetzungsinteresse voraus
Leitsatz (redaktionell)
1. Der erkennende Senat hält es ernsthaft für möglich, dass die im Streitfall maßgebliche Vorschrift des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG, ebenso wie die bereits zuvor vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) überprüfte Vorschrift von § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, verfassungswidrig sein und der Gesetzgeber zu einer Änderung mit für die Antragstellerin günstigeren Rechtsfolgen verpflichtet werden könnte.
2. Verfassungsmäßige Zweifel allein reichen nicht zur Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung (AdV) aus; vielmehr muss der Steuerpflichtige ein besonderes berechtigtes Interesse an der AdV darlegen, das gegen das öffentliche Interesse an der Fortgeltung jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes bis zu einer Entscheidung des BVerfG und gegen das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung abzuwägen ist.
3. Das Erfordernis eines besonderen Aussetzungsinteresses ist kein zusätzliches, unbestimmtes Tatbestandsmerkmal, sondern eine zulässige Interpretation des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO als Soll-Vorschrift.
Normenkette
KStG § 8c Abs. 1 S. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1
Nachgehend
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Im Einspruchsverfahren strittig ist der Untergang verrechenbarer Verluste nach § 8c Abs. 1 S. 2 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG). Dabei streiten die Beteiligten darüber, ob die Verlustfeststellungsbescheide wegen möglicher Verfassungswidrigkeit der insoweit zur Verlustkürzung angewandten Norm von der Vollziehung auszusetzen sind.
Die Antragstellerin (AStin) ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie war alleinige Gesellschafterin der X GmbH, die wiederum u.a. alleinige Gesellschafterin der Y GmbH ist. Zwischen den Beteiligten besteht ein mehrstöckiges Organschaftsverhältnis mit der AStin als Organträgerin an der Spitze. Nach – seitens des Antragsgegners nicht widersprochenem – Vortrag der AStin verfügt diese innerhalb der Organschaft über ausreichend stille Reserven, die die vermeintlich untergegangenen Verlustvorträge auf Ebene der AStin übersteigen.
2016 wurden im nicht europäischen Ausland sämtliche Anteile der A Holdings Corp. – und hierdurch mittelbar auch alle Anteile der AStin – auf neue Gesellschafter übertragen. Im Rahmen dieser Umstrukturierung wurden 99% auf einen einzelnen Erwerber übertragen.
Mit Änderungsbescheiden vom … 2022 kürzte das Finanzamt (FA) den zum 31. Dezember 2016 festgestellten Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer um … EUR und den vortragsfähigen Gewerbeverlust auf den 31. Dezember 2016 um … EUR. Der VdN wurde jeweils aufgehoben.
Gegen die vorgenannten Bescheide legte die AStin Einspruch ein und beantragte gleichzeitig deren Aussetzung der Vollziehung (AdV). Der Antrag wurde durch das FA abgelehnt. Über die eingelegten Einsprüche wurde bislang noch nicht entschieden. Die Einsprüche ruhen gemäß § 363 Abs. 2 S. 2 AO bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) im Verfahren Az. 2 BvL 19/17.
Ihren bei Gericht gestellten Antrag auf AdV begründet die AStin damit, dass ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Verlustabzugsbeschränkung des § 8c KStG i.V.m. § 10a GewStG bestünden.
Diese würden sich einerseits bereits aus dem Beschluss des Finanzgerichts (FG) Hamburgs vom 29. August 2017 – 2 K 245/17 ergeben. Mit diesem hat das FG Hamburg eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 8c S. 2 KStG in der Fassung des Unternehmenssteuerreformgesetzes 2008 vom 14. August 2007 (jetzt § 8c Abs. 1 S. 2 KStG) mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) insoweit vereinbar ist, als bei der unmittelbaren Übertragung innerhalb von fünf Jahren von mehr als 50% des gezeichneten Kapitals an einer Körperschaft an einen Erwerber die bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nic ht genutzten Verluste vollständig nicht mehr abziehbar sind (Az. beim BVerfG: 2 BvL 19/17).
Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung würden sich zudem aus der Entscheidung des BVerfG vom 29. März 2017 2 BvL 6/11 ergeben, mit dem die partielle Unvereinbarkeit von § 8c S. 1 KStG in der Fassung vom 14. August 2007 sowie des § 8c Abs. 1 S. 1 KStG in der Fassung vom 12. August 2008 und späterer Fassungen mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt worden sei. Das BVerfG habe in dieser Entscheidung unter anderem festgestellt, dass § 8c S. 1 KStG bereits einer Prüfung am Maßstab des Willkürverbots nicht standhalte. Bei summarischer Prüfung erscheine es auf jeden Fall ernsthaft zweifelhaft, dass das BVerfG den von den Folgen her gravierenderen Fall des vollständigen Verlustuntergangs bei einer Übertragung von mehr als 50% der Anteile angesichts der Deutlichkeit seine...