rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung eines Kindergeld-Rückforderungsanspruchs. inländischer Wohnsitz eines in einem ausländischem Internat untergebrachten Kindes. Verlängerung der Festsetzungsfrist wegen leichtfertiger Steuerverkürzung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Zeitmoment genügt für die Annahme der Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs grundsätzlich nicht (vgl. BFH, Beschluss v. 15.6.2004, VIII R 93/03, BFH/NV 2005 S. 153). Hinzukommen müssen besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen.
2. Die Rechtsprechung des BFH, dass Kinder, die sich zum Zwecke der Ausbildung für mehrere Jahre ins Ausland begeben, ihren Wohnsitz in der Wohnung der Eltern regemäßig beibehalten, wenn sie diese Wohnung zumindest überwiegend in der ausbildungsfreien Zeit nutzen (BFH, Urteil v. 25.9.2014, III R 10/14, BStBl 2015 II S. 655), ist nicht anwendbar, wenn sich in den ersten zweieinhalb Jahren nach Einreise in die Türkei das Kind insgesamt nur rund 10 Wochen in den Sommerferien eines Jahr im Inland aufgehalten hat.
3. Ist davon auszugehen, dass dem kindergeldbeziehenden Elternteil nicht ohne Weiteres bewusst war, dass der Internatsaufenthalt des Kindes in der Türkei zur Aufgabe des inländischen Wohnsitzes und dem Wegfall der Kindergeldberechtigung führen kann, so stellt die in der Folge unterbliebene Mitteilung des Wegzugs des Kindes an die Familienkasse keine erhebliche Sorgfaltspflichtverletzung dar, die den Vorwurf eines leichtfertigen Handelns begründen kann.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 66 Abs. 2, § 67 S. 1, § 68 Abs. 1 S. 1, § 70 Abs. 2; AO §§ 8-9, 155 Abs. 4, § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1, § 370 Abs. 1 Nr. 2, § 378 Abs. 1
Tenor
1. Der Bescheid vom 27. November 2017 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 13. Februar 2018 werden für den Zeitraum September 2012 bis einschließlich Dezember 2012 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt 92%, die Beklagte 8% der Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob im Zeitraum September 2012 bis August 2016 ein Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für ihre Tochter A., geb. am 17. Dezember 2000, besteht.
Die Klägerin lebte im Streitzeitraum mit ihrem Ehemann sowie den gemeinsamen Kindern F. (geb. am 11. April 2012), M. (geb. am 22. April 2014) und E. (geb. am 7. März 2016) in einer 3-Zimmer-Wohnung in X. mit einer Wohnfläche von rd. 80 qm. Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige. A, die deutsche Staatsangehörige ist, war im Streitzeitraum im Internat in der Türkei. Schulferien in der Türkei waren im streitgegenständlichen Zeitraum 2 Wochen Winterferien (ab Ende Januar) und 13 Wochen Sommerferien (ab Mitte Juni).
Die Klägerin bezog fortlaufend Kindergeld für A.. Die Beklagte (die Familienkasse) erlangte im Jahr 2017 Kenntnis davon, dass sich A. in der Türkei aufhielt. Auf Nachfrage gab die Klägerin an, dass A. seit 2012 in der Türkei lebe und dort ein Internat besuche (Schreiben vom 5. Juli 2017 auf Anfrage der Familienkasse vom 22. Juni 2017). Sie legte eine Bestätigung vom 3. Mai 2017 über den Schulbesuch der 10. Klasse in der Türkei vor (Schulzeiten: 19. September 2016 bis 9. Juni 2017) und brachte vor, dass nach Beendigung der Schulbildung eine Rückkehr von A. in ihren Haushalt beabsichtigt sei. A. habe sich während der ausbildungsfreien Zeiten ausschließlich am Wohnsitz der Eltern im Inland aufgehalten. Teilweise sei A. mit Freunden und Familienangehörigen mit dem Auto gereist, oder mit dem Bus oder Flugzeug. Die Klägerin legte hierzu einen Nachweis über einen Flug von A. am 5. Juni 2016 von Ankara (über Istanbul) nach Deutschland vor, sowie zwei schriftliche Bestätigungen von Nachbarn der Klägerin, die u.a. für den Streitzeitraum erklären, dass sie A. Mitte Juni 2016 bis Ende September 2016 öfters gesehen hätten und der Kindsvater sie nach den Ferien zurück ins Internat gefahren habe.
Mit Bescheid vom 19. Mai 2017, der nicht Gegenstand des Klageverfahrens ist, hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für A für den Zeitraum September 2016 bis einschließlich Februar 2017 auf. Mit drei weiteren Bescheiden, jeweils vom 27. November 2017, hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für A rückwirkend für die Zeiträume September 2012 bis März 2014, April 2014 bis Februar 2016 und März 2016 bis August 2016 nach § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) auf und forderte für diese Zeiträume Kindergeld in Höhe von 3.496 EUR, 4.430 EUR und 1.326 EUR zurück. Die gegen diese Bescheide gerichteten Einsprüche blieben erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 13. Februar 2018). Zur Begründung führte die Familienkasse im Wesent...