Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide über § 163 AO
Leitsatz (redaktionell)
Ein bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid 1998, in dem private Wertpapiergeschäfte gem. der Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b EStG der Besteuerung unterworfen wurden, die vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. März 2004 für verfassungswidrig erklärt wurde, kann nicht zugunsten des betroffenen Steuerpflichtigen im Billigkeitswege nachträglich gem. § 163 AO korrigiert werden. Ließe man dies zu,würde die vom Gesetzgeber in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG getroffene Entscheidung ausgehöhlt bzw. aufgehoben.
Normenkette
AO § 163; EStG 1998 § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1b; BVerfGG § 79 Abs. 2
Nachgehend
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob ein Steuerbescheid noch berichtigt werden kann.
Der Kläger (Kl) wird beim Beklagten (dem Finanzamt -FA-) mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung sowie sonstigen Einkünften zur Einkommensteuer veranlagt. Das FA führte die Veranlagung für das Streitjahr zunächst ohne Abweichung von der Steuererklärung durch, in der u.a. Spekulationsgewinne in Höhe von 20.246 DM erklärt worden waren. Der entsprechende Einkommensteuerbescheid 1998 datiert vom 18. Mai 2000.
Mit Schreiben vom 8. April 2004 beantragte der steuerliche Vertreter unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. März 2004 (Aktenzeichen 2 BvL 17/02, BFH/NV Beilage 2004, 293), in dem die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b Einkommensteuergesetz -EStG- (Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus Wertpapiergeschäften) in der für die Jahre 1997 und 1998 geltenden Fassung für verfassungswidrig erklärt wurde, den Einkommensteuerbescheid 1998 vom 18. Mai 2000 insoweit als rechtswidrig zurückzunehmen, als dieser den Spekulationsgewinn (20.246 DM) der Besteuerung unterwarf.
Das FA lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. April 2004 unter Hinweis auf die Vorschrift des § 79 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ab.
Im Einspruchsverfahren trug der steuerliche Vertreter vor, dass § 79 Abs. 2 BVerfGG einer Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids nicht entgegenstünde. Eine Rücknahme nach § 130 Abgabenordnung (AO) sei zulässig. Wenn Verwaltungsakte mit nichtiger Ermächtigungsgrundlage nicht zurückgenommen werden könnten, obwohl Nichtigkeit sonst automatisch Unwirksamkeit nach sich ziehe (§ 125 AO) und deshalb schwerwiegender als einfache Rechtswidrigkeit sei, sei dies ein von § 79 Abs. 2 BVerfGG kaum beabsichtigter Wertungswiderspruch. Damit sei der Verwaltung in § 130 AO ein Ermessen eingeräumt, auch einen bestandskräftigen, aber auf verfassungswidriger Grundlage ergangenen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Nach § 79 Abs. 2 BVerfGG führe die Nichtigerklärung für sich alleine nicht automatisch zur Änderung der auf Grundlage der nichtigen Ermächtigungsnorm ergangenen Bescheide, sondern es sei noch eine Einzelfallprüfung an Hand der einschlägigen Änderungs- bzw. Rücknahmevorschriften notwendig.
Wenn schon § 79 Abs. 2 BVerfGG einer Änderung nicht entgegenstehe, sei entgegen der Ansicht des FA auch die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO nicht ausgeschlossen.
Das BVerfG halte es für ausgeschlossen, dass die Besteuerungsdefizite in den Jahren 1997 und 1998 noch korrigiert werden könnten und eine nachträgliche Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch eine Umgestaltung des Besteuerungsvollzugs noch möglich sei. Deshalb habe es die Besteuerung der Spekulationsgewinne für verfassungswidrig erklärt, statt nur die bloße Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen. Das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit des Verwaltungshandelns habe Vorrang gegenüber der Bindungswirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte, weil ansonsten trotz Verfassungswidrigkeit der Besteuerungsvorschrift eine Besteuerung erfolgen würde.
Das FA vertrat demgegenüber die Auffassung, dass eine Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide aufgrund des BVerfG-Urteils nicht möglich sei. Der gesetzliche Ausschluss der Änderungsmöglichkeit gem. § 79 Abs. 2 BVerfGG verbiete außerdem die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO. Das FA nahm dabei Bezug auf das Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 19. März 2004 (BStBI I 2004, 361). Ferner sei eine Rücknahme nach § 130 AO nicht möglich, da diese Vorschrift nur auf Verwaltungsakte anzuwenden sei, die keine Steuerbescheide seien.
Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung -EE- vom 20. September 2004). Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die EE Bezug genommen.
Mit der Klage wird erneut vorgetragen, dass eine Rücknahme des Einkommensteuerbescheids 1998 vom 18. Mai 2000 hinsichtlich der Spekulationsgewinne gem. § 130 AO möglich sei. Die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG stehe dem nicht entgegen. Die Besteue...