rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeit eines Steuerbescheides bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Steuerbescheid ist nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
2. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar.
3. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen.
4. Etwas anderes gilt, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat.
5. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, „die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten”; „Strafschätzungen” eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden.
6. Die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes kann gemäß § 125 Abs. 5 AO vom FA selbst mit Verwaltungsakt erfolgen oder vom FG durch Urteil aufgrund einer Feststellungsklage gemäß § 41 Abs. 1, 2. Alt. FGO festgestellt werden. Die Erfolglosigkeit eines vorherigen Verwaltungsverfahrens ist keine Zulässigkeitsvoraussetzung dieser Feststellungsklage.
Normenkette
AO § 125 Abs. 1, 5, § 162 Abs. 1; FGO § 41 Abs. 1
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass der Einkommensteuerbescheid 2004 vom 17. Januar 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Oktober 2008 nichtig ist.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Steuerbescheid nichtig ist.
I.
Der Kläger ist ungarischer Staatsangehöriger. Am 29. Oktober 2004 meldete er beim Einwohnermeldeamt seinen Wohnsitz in der Gemeinde [… T-Dorf] ab dem 20. Oktober 2004 an. Außerdem meldete er zum 6. Dezember 2004 bei der Stadt [… T-Dorf] ein Gewerbe als selbstständiger Forst- und Waldarbeiter an und arbeitete seit diesem Zeitpunkt für einen Forstbetrieb in […T-Dorf]. Am 20. Januar 2005 reichte er beim Finanzamt […T-Dorf] den Fragebogen zur steuerlichen Erfassung ein und gab darin an, dass er am 20. Oktober 2004 aus Ungarn zugezogen sei. Die voraussichtlichen Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft gab er mit 10.000 EUR an und bezifferte den Gesamtumsatz im Jahr der Betriebseröffnung mit 10.000 EUR.
Der Kläger meldete zum März 2005 seinen Wohnsitz und sein Gewerbe in den Bezirk des Finanzamts [… X-Dorf] (FA X) um. Im Juni 2005 übernahm das FA X die Besteuerung des Klägers. Da der Kläger trotz Aufforderung keine Steuererklärungen für 2004 abgegeben hatte, schätzte das FA X unter dem Vorbehalt der Nachprüfung mit Einkommensteuerbescheid vom 22. März 2006 die Besteuerungsgrundlagen. Das FA X schätzte Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 2.000 EUR sowie Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit mit einem Bruttoarbeitslohn von 30.000 EUR. Die Einkommensteuer 2004 wurde in Höhe von 5.643 EUR festgesetzt und ein geschätzter Steuerabzug vom Lohn in Höhe von 4.999 EUR in Anrechnung gebracht.
Da der Kläger im Oktober 2006 seinen Wohnsitz erneut verlegte, übernahm im Oktober 2006 der Beklagte – das Finanzamt […F-Dorf] (FA) – die Besteuerung. Mit Einkommensteuerbescheid 2004 vom 17. Januar 2007 änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung und berücksichtigte nun Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 6.000 EUR. Die Einkommensteuer wurde in Höhe von 6.868 EUR festgesetzt und es wurden wiederum geschätzte Lohnsteuern in Höhe von 4.999 EUR in Anrechnung gebracht. Da der Kläger auf die verbleibende Steuer bereits den Betrag von 644 EUR gezahlt hatte, wurde ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 1.225 EUR ausgewiesen, der zum 22. Februar 2007 fällig war.
Mit Telefax vom 15. März 2007 ließ der Kläger durch die Prozessbevollmächtigten Einspruch gegen die beiden Einkommensteuerbescheide für 2004 erheben und kündigte Anträge auf Berichtigung der Bescheide oder auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder auf Feststellung der Nichtigkeit an. Mit Telefax vom 5. Juni 2007 wurde die Feststellung der Nichtigkeit der Einkommensteuerbescheide 2004 vom 22. März 2006 und 17. Januar 2007 beantragt. Der Einkommensteuerbescheid 2004 vom 17. Januar 2007 würde unter einem besonders schwerwiegenden Fehler im Sinne des § 125 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) leiden. Der Kläger sei erst Ende Oktober 2004 nach Deutschland übergesiedelt. Eine nichtselbständige Arbeit habe er nicht aufgenommen. Am 13. Januar 2005 habe er bei der Stadt [T-Dorf] ein Gewerbe als ...