Revision eingelegt (BFH III R 30/23)
Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG für die rückwirkende Stellung von Kindergeldanträgen
Leitsatz (redaktionell)
2. Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes wird nach der gesetzgeberischen Konzeption des Familienleistungsausgleichs entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG bewirkt (§ 31 Satz 1 EStG). Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Im laufenden Kalenderjahr wird Kindergeld als Steuervergütung monatlich gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG). Bewirkt der Anspruch auf Kindergeld für den gesamten Veranlagungszeitraum die nach § 31 Satz 1 EStG gebotene steuerliche Freistellung nicht vollständig und werden deshalb bei der Veranlagung zur Einkommensteuer die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG vom Einkommen abgezogen, erhöht sich die unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld für den gesamten Veranlagungszeitraum (§ 31 Satz 4 Halbsatz 1 EStG).
1. Das Kindergeld dient nur der vorläufigen Freistellung des Existenzminimums während des laufenden Veranlagungszeitraums (§ 31 Satz 3 EStG). Die endgültige Freistellung erfolgt erst durch die nach Ablauf des Veranlagungszeitraums durchzuführende Günstigerprüfung nach § 31 Satz 4 EStG. Entsprechend hat die Verfassungsmäßigkeitsprüfung auch erst bei der Günstigerprüfung anzusetzen (vgl. BFH III R 37/19 vom 9. 9. 2020).
Ein durch die Frist des § 66 Abs. 3 EStG a. F. ausgeschlossener Kindergeldanspruch ist bei der Günstigerrechnung und Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG i. H. v. 0 € zu berücksichtigen. (vgl. BFH III R 50/19 vom 26. 5. 2021).
Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen (vgl. u. a. BFH III R 37/19 vom 9. 9. 2020 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 06.11.2003 2 BvR 1240/02 vom 6. 11. 2003).
Normenkette
EStG § 66 Abs. 3
Tatbestand
Streitig ist die Verfassungsmäßigkeit des § 66 Abs. 3 EStG a. F.
Der Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und Vater des Kindes A Z (geb. am 03.04.2017). Seine Ehefrau, die Mutter des Kindes, erhielt im Streitzeitraum rumänische Kindergeldleistungen für A Z i. H. v. monatlich 200 Lei (Mai 2017 - März 2019), 300 Lei (April 2019), 150 Lei (Mai - Dezember 2019), 156 Lei (Januar - Juli 2020), 185 Lei (August - Dezember 2020), 214 Lei (Januar - Dezember 2021) und 243 Lei (Januar - November 2022). Die Ehefrau und das Kind lebten in Rumänien.
Der Kläger war von Januar - Dezember 2018 in Deutschland nichtselbständig beschäftigt.
Am 27.05.2019 stellte der Kläger bei der beklagten Familienkasse Antrag auf Kindergeld für A.
Mit Bescheid vom 14.12.2020 lehnte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Januar - Oktober 2018 ab, weil die Festsetzung für einen längeren Zeitraum als die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen sei, gem. § 66 Abs. 3 EStG ausgeschlossen sei.
Mit einem weiteren Bescheid vom 14.12.2020 setzte die Familienkasse für den Zeitraum von November 2018 - Oktober 2019 Differenzkindergeld fest.
Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Kläger, vertreten durch die Prozessbevollmächtigten, Einspruch ein und bestritt die Verfassungsmäßigkeit des § 66 Abs. 3 EStG.
Mit Einspruchsentscheidung vom 07.04.2021 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bundesfinanzhof habe entschieden, dass § 66 Abs. 3 EStG i. d. F. vom 23.06.2017 das Festsetzungsverfahren betreffe und die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung begrenze (Urteil vom 19.02.2020 III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704). Da der Kindergeldantrag erst am 27.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen sei, sei eine Kindergeldfestsetzung für den beantragten Zeitraum ausgeschlossen. Mit Urteil vom 09.09.2020 (III R 37/19, BFH/NV 2021, 449) habe der Bundesfinanzhof zudem klargestellt, dass § 66 Abs. 3 EStG nicht verfassungswidrig sei. Verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich der Rechtsnorm des § 66 Abs. 3 EStG seien damit ausgeräumt.
Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch die Prozessbevollmächtigten, Klage erhoben.
Das Klageverfahren hat zunächst im Hinblick u. a. auf die Verfahren vor dem Bundesfinanzhof III R 21/21 und III R 28/21 und das Verfahren vor dem Finanzgericht Nürnberg 5 K 251/21 geruht.
Die Familienkasse hat zwei Anfragen an den rumänischen Leistungsträger gestellt. Dieser hat daraufhin die in Rumänien gezahlten Kindergeldbeträge angegeben und im Rahmen der zweiten Auskunft mitgeteilt, dass die Kindsmutter in Rumänien keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe und dass man keine Informationen darüber erhalten habe, dass die Fami...