Rz. 30
§ 11 ErbStG geht davon aus, dass die tatsächlichen Verhältnisse am Bewertungsstichtag der Wertermittlung zugrunde zu legen sind. Ob spätere Ereignisse den Wert des Anfalls bzw. der Zuwendung verändern oder die Höhe einer dem Grunde nach abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeit (§ 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG) verändern, ist deshalb grds. unerheblich. Ebenso ist ohne Bedeutung, dass die Wertermittlung tatsächlich erst in einem u. U. erheblichen zeitlichen Abstand zum maßgeblichen Bewertungsstichtag erfolgt.
Rz. 31
Kann der Bewertungsstichtag nicht genau festgestellt werden, so ist er im Wege der Schätzung festzulegen. Auch der Stichtagswert selbst ist ggf. zu schätzen.
4.1 Verzögerte Verfügbarkeit des Vermögensgegenstands
Rz. 32
Konfliktstoff bietet das Stichtagsprinzip besonders dann, wenn nach dem Zeitpunkt der Steuerentstehung infolge verzögerter tatsächlicher Verfügbarkeit des Vermögensgegenstands ein Wertverlust eingetreten ist.
Rz. 33
Zu Einschränkungen der tatsächlichen Verfügbarkeit kann es in erster Linie bei Erwerben von Todes wegen kommen. Fällt z. B. die Erbschaft nach Ausschlagung dem Nächstberufenen an, so gilt dieser rückwirkend vom Erbfall an als Erbe. Entsprechende Folgen ergeben sich aus einer Erbunwürdigkeitserklärung. Tatsächliche Hindernisse können der Verfügungsmöglichkeit des Erben über das ihm zugefallene Vermögen auch bei verspäteter Erteilung des Erbscheins (z. B. aufgrund von Erbstreitigkeiten) und häufig auch bei Erwerben von Auslandsvermögen entgegenstehen. Auch bei Anordnung der Testamentsvollstreckung ist die tatsächliche Verfügbarkeit für den Erben wegen der Verwaltungsbefugnis des Testamentsvollstreckers eingeschränkt.
Rz. 34
Vor allem beim Erwerb von Wertpapiervermögen oder Fremdwährungsguthaben können sich wegen der sich täglich ändernden Devisen- und Wechselkurse binnen kürzester Frist erhebliche Wertverluste ergeben. In besonders krassen Fällen ist es denkbar, dass z. B. bei einem starken Kurseinbruch bei Wertpapieren oder Währungsparitäten die nach dem Stichtagswert berechnete Steuer den Wert des Vermögens im Zeitpunkt seiner tatsächlichen Verfügbarkeit aufzehrt oder gar überschreitet.
Rz. 35
In all diesen Fällen verzögerter Verfügbarkeit des Erworbenen ist der Bewertungsstichtag der Zeitpunkt der Steuerentstehung. Wertverluste nach dem Stichtag, insbesondere solche aufgrund eines nach dem Erbfall eingetretenen Kursverfalls, bleiben grds. unberücksichtigt. Davon geht auch die FinVerw aus. Dies gilt ebenso, in diesem Fall freilich zugunsten des Erwerbers, auch für nach dem Stichtag eintretende Wertsteigerungen.
Rz. 36
Als geeignete Gestaltungsmaßnahme, um nach einem Erbfall eine zeitnahe Verfügungsmöglichkeit des Erwerbs zu sichern, kann sich eine vom Erblasser zu seinen Lebzeiten erteilte Vollmacht auf den Todesfall (sog. postmortale Vollmacht), ggf. auch die Anordnung der Testamentsvollstreckung oder der Abschluss eines Vertrags zugunsten Dritter erweisen.
Bei Schenkungen unter Lebenden kann nachteiligen schenkungsteuerlichen Folgen durch Vereinbarung eines Rücktritts- oder Widerrufsrechts für den Schenker, das die Anwendung des § 29 Nr. 1 ErbStG ermöglicht, begegnet werden.
4.2 Rückwirkende Rechtsgestaltungen
Rz. 37
Aus dem Stichtagsprinzip folgt, dass Rückdatierungen in Schenkungsverträgen bei der steuerlichen Wertermittlung regelmäßig nicht zu berücksichtigen sind. Das gilt auch für die schenkungsweise Zuwendung einer Gesellschaftsbeteiligung.
Auch eine ertragsteuerliche Rückwirkung, wie sie durch § 2 UmwStG zugelassen ist, lässt die Anwendung des § 11 ErbStG unberührt. Denn die Frage, welches Vermögen zum Nachlass eines Erblassers gehörte bzw. was Gegenstand einer unentgeltlichen Zuwendung war, beurteilt sich ausschließlich nach zivil- bzw. erbschaftsteuerrechtlich maßgeblichen Verhältnissen des Bewertungsstichtags.
4.3 Nachträglicher Forderungsausfall
Rz. 38
Das Stichtagsprinzip ...