Rz. 50
Das in § 11 ErbStG normierte Stichtagsprinzip schließt einen Billigkeitserlass zwar nicht generell aus. Ein Erlass der Erbschaftsteuer wegen einer sich aus dem Stichtagsprinzip ergebenden sachlichen Unbilligkeit und ggf. eine Stundung kommt aber nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht, weil der Gesetzgeber mit Schaffung der Stichtagsregelung die Möglichkeit von Wertminderungen oder -erhöhungen nach dem Stichtag bewusst in Kauf genommen hat. Es geht daher keinesfalls an, bei jedweder Wertminderung des Erworbenen infolge verzögerter tatsächlicher Verfügbarkeit einen Billigkeitserlass zu gewähren. Die Notwendigkeit einer Billigkeitsmaßnahme ist allerdings dann nicht von der Hand zu weisen, wenn eine nach dem Stichtag eintretende Wertminderung für den Erwerber unabwendbar war und die Steuer den tatsächlich zugeflossenen Wert des Erworbenen erreicht oder gar übersteigt. Diese Erwägung kann für die Gewährung eines Billigkeitserlasses sprechen, wenn bei einer von Todes wegen erworbenen Leibrente (§ 23 Abs. 1 ErbStG) zunächst die Jahresversteuerung gewählt und später, nachdem die Rentenzahlungen wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Verpflichteten ausgefallen sind, für die Ablösung der Jahressteuer nach § 23 Abs. 2 ErbStG eine abweichende Steuerfestsetzung (Ablösungsbetrag von 0 EUR) beantragt wird. Hinzukommen muss, dass der Rentenberechtigte den Zahlungsausfall nicht zu vertreten hat und eine dauerhafte Zahlungsfähigkeit des Rentenverpflichteten vorliegt. Einen Billigkeitserlass hat der BFH zusätzlich auch mit der mangelnden wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Rentenstammrechts begründet. Diese Aussage des BFH ist auf die speziellen Verhältnisse bei einem Rentenstammrecht beschränkt. Sie kann nicht dahin verstanden werden, dass auch in anderen Konstellationen (z. B. beim Wertverlust eines ererbten Wertpapierdepots infolge verzögerter Verfügbarkeit) bei fehlender oder eingeschränkter Verwertbarkeit eines Vermögensgegenstands eine Durchbrechung des Stichtagsprinzips gerechtfertigt sein kann.
Rz. 51
Nach Auffassung der Lit. soll eine Billigkeitsmaßnahme auch naheliegen, wenn sich aus der nach dem Stichtagswert berechneten Steuer auf den verbliebenen Wert des zugewendeten Vermögens eine Besteuerungsquote ergibt, die den Höchststeuersatz der anzuwendenden Steuerklasse oder den Steuersatz der nächsthöheren Steuerklasse übersteigt. Dieser Vorschlag überzeugt – abgesehen davon, dass er für mit dem Höchststeuersatz zu besteuernde Erwerbe der Steuerklasse III keine Lösung bietet – schon deshalb nicht, weil der Gesetzgeber auch bei Normierung der (Höchst-)Steuersätze (§ 19 ErbStG) eine strikte Anwendung des Stichtagsprinzips zugrunde gelegt hat.
Rz. 52
Für eine Billigkeitsmaßnahme ist deshalb nur Raum, soweit die Besteuerung im Einzelfall die dem erbschaftsteuerlichen Zugriff gesetzte verfassungsrechtliche Grenze tangiert, d. h. erdrosselnde Wirkung hat. Ferner dürften Billigkeitsmaßnahmen für Erben der Steuerklasse I angezeigt sein, soweit das tatsächlich erworbene Vermögen nicht (mehr) unterhalb des Freibetrags verbleibt, der den Erben nach dem BVerfG-Beschluss vom 22.6.1995"ungeschmälert verbleiben muss".
Rz. 53
Der sog. Halbteilungsgrundsatz scheidet hingegen als verfassungsrechtliche Basis für Billigkeitsmaßnahmen aus, da er auf die Erbschaft- und Schenkungsteuer unanwendbar ist.