Prof. Dr. Michael Fischer
Rz. 413
Erbschaftsteuerrechtlich gilt als Erwerb von Todes wegen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG der Erwerb aufgrund eines geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs unter Bezugnahme auf die §§ 2303 ff. BGB. Dies bezieht sich auf den Pflichtteilsanspruch gem. § 2317 BGB, nach h. M. einschließlich eines Zusatzpflichtteils nach § 2305 BGB (zur Kritik Rz. 424) und eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs nach § 2325 BGB (zur Kritik Rz. 423).
Rz. 414
Erwerbsgegenstand ist der (Zahlungs-)Anspruch und nicht der Vermögenserwerb infolge Erfüllung dieses Anspruchs. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG entsteht die Steuer erst mit Geltendmachung des Anspruchs. Korrespondierend dazu sieht § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG vor, dass der Erbe ab diesem Zeitpunkt eine Nachlassverbindlichkeit abziehen darf.
Rz. 415
Ordnet der Erblasser in seiner Verfügung von Todes wegen an, dass ein gesetzlicher Erbe nur den Pflichtteil erhalten solle, ohne ihn ausdrücklich zu enterben, muss durch Auslegung ermittelt werden, ob der gesetzliche Erbe einen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG steuerbaren Erbteil in Höhe des Pflichtteils oder nur einen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG steuerbaren Pflichtteilsanspruch haben soll. Im Zweifel ist das Letztere anzunehmen. Wäre demgegenüber von einer Erbeinsetzung auszugehen, würde die Steuer grundsätzlich mit dem Erbfall entstehen.
Rz. 416
Der Pflichtteilsanspruch ist mit dem Nennwert anzusetzen. Der Pflichtteilsberechtigte hat keinen Anspruch darauf, anstelle eines Zahlungsanspruchs die Übereignung einzelner Nachlassgegenstände verlangen zu können. Deswegen kann auch eine anstelle des Zahlungsanspruchs tretende Leistung an Erfüllung statt den auf den Zahlungsanspruch entstandenen Steueranspruch weder ändern noch aufheben. Die Frage spielte vor allem nach der früheren Rechtslage eine wichtige Rolle, wenn dem Pflichtteilsberechtigten Nachlassgegenstände mit einem unterhalb des Verkehrswerts liegenden Steuerwert übertragen wurden (insb. Grundstücke). Indes bleibt weiterhin für Zwecke der Grunderwerbsteuer bedeutsam, dass ein Grundstückserwerb zur Erfüllung eines auf Geld gerichteten Pflichtteilsanspruchs "an Erfüllung statt" nicht nach § 3 Nr. 2 S. 1 GrEStG von der Steuer befreit ist. Immerhin bleibt die Möglichkeit einer Steuerbefreiung, wenn auf den (noch nicht geltend gemachten) Pflichtteilsanspruch verzichtet und als Abfindung hierfür dem Verzichtenden ein Grundstück übereignet wird. Dies folgt aus der Begründung des BFH-Urteils vom 10.7.2002.
Rz. 417
Die Steuer entsteht erst mit der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs. Das hängt damit zusammen, dass die ErbSt eine Bereicherungssteuer ist und mit der zivilrechtlichen Entstehung des Pflichtteils nach § 2317 BGB noch keine Bereicherung eintritt. Nach Auffassung des BFH gilt dies jedoch nicht für den Erwerb eines Pflichtteilsanspruchs durch Erbanfall (derivativer Erwerb). Ein vom Pflichtteilsberechtigten zur Lebzeit nicht geltend gemachter Pflichtteilsanspruch fällt in dessen Nachlass und unterliegt beim Erben der Besteuerung aufgrund Erbanfalls gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG. Maßgeblicher Steuertatbestand ist für den entstandenen aber nicht geltend gemachten Pflichtteilsanspruch somit der § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG und nicht § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG. Sollte der Erbe sich dazu entschließen den Pflichtteilsanspruch geltend zu machen, spricht sich der BFH zumindest gegen eine doppelte Besteuerung aus. Die Entscheidung des BFH ist – wenn auch dogmatisch nachvollziehbar – problematisch. Unabhängig davon, ob der Erbe den derivativ erworbenen Pflichtteilsanspruch geltend machen möchte, erfüllt bereits der Erwerb des Anspruchs den Tatbestand des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG. Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass der Erbe typischerweise in einem ähnlichen Näheverhältnis zum Pflichtteilsschuldner stehen kann wie der Erblasser, sodass die Entschließungsfreiheit des Erben nicht hinreichend berücksichtigt wird. Den Erben auf die Möglichkeit der Ausschlagung der gesamten Erbschaft zu verweisen, ist keine echte Alternative.
Erbschaftsteuerrechtlich ist damit das Tatbestandsmerkmal der "Geltendmachung" des Pflichtteils von ganz entscheidender Bedeutung. Von ihr hängt nicht nur die Entstehung der Steuer nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG ab, sondern auch Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf einen Verzicht. Soweit der Pflichtteilsanspruch erbschaftsteuerrechtlich mangels Geltendmachung noch nicht entstanden ist, kann der Pflichtteilsberechtigte darauf verzichten. Steuerrechtlich hat dies dieselbe Wirkung wie die unentgeltliche Ausschlagung einer Erbschaft bzw. eines Vermächtnisses, ist also irrelevant. Anders ist die Rechtslage, wenn der Pflichtteilsanspruch bereits geltend gemacht worden ist und erst dann auf den Anspruch verzichtet wird. Erfolgt der Verzicht unentgeltlich, kann der Vorgang als freigebige Zuwendung unter Lebenden nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG zu werten sein, wobei die Steuerbe...