Rz. 21
Verstoß gegen Freiheit der Niederlassung. In der Literatur wird verbreitet angenommen, dass § 2 gegen die Grundfreiheiten des AEU-Vertrages verstößt, namentlich gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und auch die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV). Worin genau die Verletzung der Grundfreiheiten bestehen soll, wird allerdings unterschiedlich beurteilt. Zu pauschal erscheint die Argumentation, dass die Regelung den Umzug ins Ausland weniger attraktiv mache, weil nicht deutlich wird, welcher Alternativsachverhalt diesem Vergleich ("weniger als") zugrunde liegt. Soweit die Belastung des Stpfl. mit der Situation verglichen wird, wie sie ohne Geltung des § 2 bestünde, wird den Grundfreiheiten eine freiheitsrechtliche Schutzkomponente unterstellt, die diesen so nicht zukommt. Obwohl der EuGH in seiner Rspr. die Grundfreiheiten im Laufe der Zeit über (weit verstandene) Diskriminierungsverbote hinaus zu Beschränkungsverboten fortentwickelt hat, versteht er die Grundfreiheiten – jedenfalls auf steuerrechtlichem Gebiet – als Gleichheitsrechte. Der wiederholt verwendete Prüfungsansatz, ob nämlich eine Regelung des nationalen Steuerrechts Freiheitsbetätigungen weniger attraktiv mache, bezieht den verwendeten Komparativ "weniger" stets auf einen vergleichbaren Inlandssachverhalt, nicht aber auf eine Situation, wie sie sich ohne Steuerbelastung ergäbe.
Rz. 22
Diskriminierung gegenüber dem innerhalb Deutschlands Umziehenden. Der ins Ausland verziehende Stpfl. muss daher mit dem im Inland umziehenden verglichen werden. Wird der Erstgenannte im Vergleich zum Zweitgenannten steuerlich stärker belastet, liegt eine Beschränkung der Freiheit aus Art. 49 oder 45 AEUV vor. Entgegen teilweise vertretener Auffassung, ist eine Benachteiligung indessen nicht erkennbar. Während im zweiten Fall der Stpfl. nach wie vor mit seinem Welteinkommen der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, ist der Wegziehende nur noch erweitert beschränkt steuerpflichtig. Das Gesetz stellt in § 2 Abs. 6 sicher, dass die resultierende Steuerlast nicht über diejenige hinausgeht, die bei unbeschränkter Steuerpflicht bestünde. Die Steuerbelastung im ausländischen Zuzugsstaat bleibt dabei außer Betracht und zwar auch dann, wenn die Einkünfte in beiden Staaten besteuert werden. Beim gegenwärtigen Stand der Integration üben die Mitgliedstaaten ihre Besteuerungskompetenz parallel zueinander aus, so dass Überschneidungen und Kumulierungen gemeinschaftsrechtlich hinzunehmen sind.
Rz. 23
Diskriminierung von Deutschen gegenüber Ausländern. Unbestreitbar ist, dass aufgrund von § 2 (ehemalige; vgl. dazu Rz. 51) Deutsche nach ihrem Wegzug aus Deutschland u.U. einer höheren Einkommensteuerbelastung unterworfen sind als fremde Staatsangehörige, weil die Bemessungsgrundlage der Steuer breiter ist (aufgrund der erweiterten Inlandseinkünfte, § 2 Abs. 1 Satz 1) und der Steuersatz (aufgrund des Progressionsvorbehalts, § 2 Abs. 5) höher ausfällt. Insofern liegt es nahe, in der Vorschrift eine Verletzung zumindest des Art. 18 AEUV zu sehen, der den Mitgliedstaaten "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" verbietet. Dieses Verbot schützt auch gegenüber dem Heimatstaat, wenn der Stpfl. von den durch den EU-Vertrag verliehenen Grundfreiheiten Gebrauch gemacht hat. Im Verfahren van Hilten-van der Heijden entschied der EuGH, dass die niederländische erweitert beschränkte Erbschaftsteuerpflicht die (im konkreten Fall einschlägige) Kapitalverkehrsfreiheit nicht beschränkt. Dass die Niederlande beim Erwerb von Todes wegen den niederländischen Erblasser innerhalb von zehn Jahren nach seinem Wegzug dem ansässigen Erblasser gleichstellen, den ausländischen Erblasser aber nicht, ist keine durch Art. 63 AEUV verbotene unterschiedliche Behandlung. Vielmehr ist es Ausdruck der vom Unionsrecht unbeeinflussten Befugnis der Mitgliedstaaten, den sachlichen Umfang ihrer Steuerhoheit festzulegen. In Bezug auf die Besteuerung von erweiterten Inlandseinkünften im Rahmen der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht kann nichts anderes gelten. Damit ist jedoch über die Vereinbarkeit des Progressionsvorbehalts mit dem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot jedoch noch nichts gesagt. Die Rechtsprechung des EuGH differenziert nämlich zwischen der Abgrenzung von Steuerhoheit und deren Ausübung: Bei der Abgrenzung von Steuerhoheiten (durch DBA) begründet die auf das Merkmal der Staatsangehörigkeit gestützte Unterscheidung keine unionsrechtlich verbotene Ungleichbehandlung."Bei der Ausübung der [...] Steuerhoheit muss der über diese Steuerhoheit verfügende Mitgliedstaat dagegen den Grundsatz der Gleichbehandlung beachten." Zu dieser "Ausübung der Steuerhoheit" zählt die konkrete Ausgestaltung eines Progressionsvorbehalt, wie sie schon mehrfach bei Steuerinländern Gegenstand der EuGH-Rechtsprechung war. Erst recht ist die Anordnun...