Rz. 12
Freiheit des Kapitalverkehrs. Art. 63 AEUV gewährleistet den freien Kapitalverkehr. Was Kapitalverkehr im Einzelnen bedeutet, entnimmt der EuGH in ständiger Rspr. der Nomenklatur der Richtlinie 88/361/EWG v. 24.6.1988, obschon Art. 67 des EWG-Vertrages, der mittels dieser Richtlinie durchgeführt werden sollte, zwischenzeitlich aufgehoben wurde. Unter der Überschrift "XI Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter" finden sich in der Nomenklatur (Anhang I der RL 88/361) "B. Schenkungen und Stiftungen" sowie "D. Erbschaften und Vermächtnisse", so dass Vermögensübergänge im Erb- und Schenkungswege am Schutz durch die Kapitalverkehrsfreiheit teilhaben. Ausgenommen sind lediglich Erwerbe, die "mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausweisen". Die Reichweite des Schutzes durch Art. 63 AEUV bestimmt sich maßgeblich danach, was als eine verbotene Beschränkung definiert ist. Die Rspr. ist hier wenig einheitlich. In den Urteilen zum österreichischen Grundstücksverkehrsrecht hat der EuGH das Erfordernis einer Genehmigung selbst dann am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit gemessen, wenn dieses diskriminierungsfrei normiert war. Danach wäre § 4 per se als Beschränkung des freien Kapitalverkehrs aufzufassen. Denn es ist nicht zu leugnen, dass die hieraus resultierende Belastung geeignet ist, einen Auswanderer davon abzuhalten, inländisches Vermögen zu behalten oder zu erwerben; außerdem mindert sie den Wert seines Nachlasses. In Fragen des materiellen Steuerrechts hat der EuGH die Grundfreiheiten zu Recht nicht in dieser freiheitsrechtlich orientierten Sichtweise angewendet. Dies würde nämlich unweigerlich dazu führen, dass auch die beschränkte und die unbeschränkte Erbschaftsteuerpflicht als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen aufgefasst würden, ohne dass eine Rechtfertigung in Sicht wäre. Dem trägt der EuGH Rechnung, indem er die abschreckende Wirkung der nationalen Steuerbelastung und die drohende Wertminderung des Nachlasses jeweils durch einen Vergleich mit der Situation feststellt, in der der Steuerpflichtige Gebietsansässiger ist. Folgerichtig enthält die der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG) vergleichbare niederländische Regelung keine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs. Von diesem Standpunkt aus liegt eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch § 4 in der Differenzierung nach der Steuerbelastung im Zuzugsstaat. Eine weitere Beschränkung des freien Kapitalverkehrs liegt darin, dass der Auswanderer nach Ende der unbeschränkten Steuerpflicht davon abgehalten wird, Vermögen in Deutschland zu investieren (vgl. näher § 2 AStG Rz. 26 f.). Es ist bereits fraglich, ob diese genannten Beschränkungen von Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV gedeckt sind. Jedenfalls fehlt es an einem sachlichen Grund, der dazu führte, dass diese Beschränkungen nicht als willkürliche Diskriminierung erscheinen (Art. 65 Abs. 3 AEUV). Im Ergebnis verstößt § 4 daher gegen Unionsrecht.
Rz. 13
Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten/Stand-Still-Klausel. Art. 63 Abs. 1 AEUV liberalisiert den Kapitalverkehr auch im Verhältnis zu Drittstaaten, was hier insofern von besonderer Bedeutung ist, als die meisten niedrigbesteuernden Gebiete i.S. von § 2 Abs. 2 keine Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind. Die Reichweite der Liberalisierung im Verhältnis zu Drittstaaten ist an Art. 64 Abs. 1 AEUV zu messen, da § 4 sich in der auch heute noch gültigen Fassung (vgl. Rz. 1 f.) am 31.12.1993 bereits in Kraft befand. Diese Vorschrift betrifft jedoch nur exakt umschriebene Materien (Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, die Niederlassung, die Erbringung von Finanzdienstleistungen sowie die Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten). Dass Erbschaften und Schenkungen darin nicht genannt sind, entzieht diese Kapitaltransfers nicht von vornherein dem Anwendungsbereich der "Stand-Still-Klausel". Insoweit, als die durch mitgliedstaatliche Rechtssetzung bewirkte Beschränkung etwa "Immobilienanlagen" als Teil eines Nachlasses betrifft, kann dies – unter den weiteren Voraussetzungen – durch Art. 64 Abs. 1 AEUV salviert sein. Da § 4 den freien Kapitalverkehr gerade dadurch beschränkt, dass er zusätzliches Inlandsvermögen der Erbschaft- oder Schenkungsteuerpflicht unterwirft (vgl. Rz. 12), könnte Art. 64 Abs. 1 AEUV eine solche Beschränkung allenfalls insoweit erlauben, als die in dieser Norm umschriebenen Materien erweitertes Inlandsvermögen bezeichnen. Daran fehlt es jedoch, weil weder die "Anlage in [deutsche] Immobilien" noch "Direktinvestitionen [in deutsche Unternehmen]" zum erweiterten Inlandsvermögen zählen (vgl. dazu Rz. 65): Im Inland belegene Immobilien gehören nach § 121 Nr. 1 und 2 BewG bereits regulär zum Inlandsvermögen und Direktinvestitionen setzen nach ständiger Rechtsprechung die Möglichkeit voraus, sich an der Verwaltung der Gese...