Rz. 51
EuGH-Urteil vom 20.10.2011: (Frühere) Ungleichbehandlung durch das Steuerabzugsverfahren bei Streubesitzdividenden. Bislang bestand eine Ungleichbehandlung zwischen Kapitalgesellschaften mit Sitz in einem Mitgliedstaat und solchen mit Sitz im Inland als Gesellschafter inländischer Kapitalgesellschaften insoweit, als die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer auf Dividenden, die an EU-Kapitalgesellschaften ausgeschüttet wurden, nicht erstattet wurde, wenn die Voraussetzungen des § 50d Abs. 1 nicht erfüllt, d.h. wenn insbesondere nicht die Voraussetzungen eines DBA, §§ 50g oder 43b EStG gegeben waren. Die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer hatte in diesen Fällen abgeltenden Charakter (§ 32 Abs. 1 KStG). Bei der inländischen Kapitalgesellschaft als Gesellschafter wurde die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer hingegen angerechnet oder vergütet (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 2 EStG). Die EU-Kapitalgesellschaft als Gesellschafterin hatte nicht die Möglichkeit einer Veranlagung, in der § 8b Abs. 1 KStG zu berücksichtigen gewesen wäre. Angesichts dessen hat der EuGH mit Urteil vom 20.10.2011 entschieden, dass die deutschen Regelungen über den Quellensteuerabzug bei Streubesitzdividenden gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen und folglich unionsrechtswidrig sind. Deutschland darf hiernach Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden, wirtschaftlich keiner höheren Belastung unterwerfen als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz im Inland ausgeschüttet werden.
Rz. 52
Reaktion des BFH mit Urteil vom 11.1.2012: § 50d Abs. 1 analog. Infolge dieser EuGH-Rechtsprechung entschied der BFH mit Urteil vom 11.1.2012, dass die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer in analoger Anwendung des § 50d Abs. 1 gewährt werden kann, wenn die Voraussetzungen des § 50d Abs. 1 nicht erfüllt sind, die Einbehaltung und Abführung aber zu einer unionsrechtlichen Diskriminierung führen. Damit gab er seine bis dahin vertretene Auffassung auf, dass das Steuerabzugsverfahren mit Unionsrecht vereinbar ist. Zuständig für die Erstattung analog § 50d Abs. 1 ist das Finanzamt und nicht – wie bei unmittelbarer Anwendung des § 50d Abs. 1 – das Bundeszentralamt für Steuern, da dessen Zuständigkeiten im Finanzverwaltungsgesetz abschließend geregelt sind. Das Freistellungsverfahren gem. § 50d Abs. 2 ist in den Konstellationen, in denen § 50d Abs. 1 analog angewendet wird, ausgeschlossen. Dies folgt aus der Gleichbehandlung mit dem Steuerinländer. Nicht anders als der Steuerinländer ist auch der ausländische Streubesitzdividendenempfänger gehalten, den Steuerabzug zunächst hinzunehmen (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 3 EStG) und sein Begehren sodann im Rahmen eines nachträglichen Erstattungsverfahrens auf anderer Rechtsgrundlage – in entsprechender Anwendung von § 50d Abs. 1 Satz 1 und gerichtet auf den Erlass eines entsprechenden Freistellungsbescheides gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO – durchzusetzen.
Rz. 53
Bestätigung der Unionsrechtmäßigkeit der Zweiteilung des Verfahrens. Dabei hat der BFH die Zweiteilung des Verfahrens – vorheriger Steuerabzug und anschließende Erstattung – im Hinblick auf die Scorpio-Entscheidung des EuGH als mit den europäischen Grundfreiheiten vereinbar angesehen. Das gilt insbesondere dann, wenn – wie beim Abzug der Kapitalertragsteuer – In- und Ausländer gleichbehandelt werden. Die verfahrensrechtliche Umsetzung unionsrechtlicher Anforderungen an das nationale Steuerrecht obliegt mangels einer einschlägigen Unionsregelung ohnehin autonom den einzelnen Mitgliedstaaten. Es darf dem Steuerpflichtigen nur nicht unmöglich gemacht werden, seinen unionsrechtlich begründeten Anspruch durchzusetzen. Das aber ist jedenfalls infolge der voneinander abweichenden Zuständigkeitsregelungen nicht der Fall.
Rz. 54
Frage der Anwendung von § 50d Abs. 3 bei § 50d Abs. 1 analog. Die Finanzverwaltung hält bei der analogen Anwendung von Abs. 1 Satz 1 auch Abs. 3 für anwendbar. Es erscheint fraglich, ob hierdurch gegen den Grundsatz des Analogieverbots verstoßen wird. Der BFH hatte in seiner Entscheidung nicht auf Abs. 1 Satz 2 ff. und Abs. 3 Bezug genommen. Bei der analogen Anwendung des Abs. 1 Satz 1 würde es sich dann um einen Rechtsfolgenverweis handeln, der nicht auch die Voraussetzungen des Abs. 3 erfasst. Missbräuchlichen Gestaltungen könnte dann evtl. nur § 42 AO entgegenstehen.
Rz. 55
Reaktion des Gesetzgebers auf das EuGH-Urteil vom 20.10.2011. Auch der Gesetzgeber reagierte auf das EuGH-Urteil vom 20.10.2011. Er beseitigte die vom EuGH monierte Ungleichbehandlung von In- und Ausländern, indem er die Schlechterstellung auch auf den Inlandsfall erstreckte. Infolge der Gesetzesänderung können Dividenden nunmehr sowohl von ausländischen als auch von inländischen Kapitalgesellschaften gem. § 8 Abs. 4 KStG nicht mehr steuerfrei bezogen werden, we...