Rz. 14

[Autor/Stand] Verfassungsrechtlich ggf. zulässiges Treaty Override. § 50 i Abs. 1 Satz 1 EStG enthält ein sog. Treaty Override.[2] Dies bringt die Formulierung zum Ausdruck, dass in den Fällen des § 50 i die Inlandsbesteuerung "ungeachtet entgegenstehender Bestimmungen des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung" vorzunehmen ist. Der erste BFH-Senat ist – entgegen seiner früheren Rechtsauffassung[3] – davon überzeugt, dass ein Treaty Override nicht mit geltendem Verfassungsrecht vereinbar ist.[4] Der BFH stütz seine Rechtsauffassung darauf, dass durch ein Treaty Override gegen Völkervertragsrecht ("pacta sunt servanda")[5] verstoßen wird, das nach der Spruchpraxis des BVerfG verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Vor diesem Hintergrund sei Art. 59 Abs. 2 GG, wodurch ein DBA in innerstaatliches Recht mit dem Rang eines Bundesgesetzes transformiert wird, dahingehend zu deuten, dass der deutsche Gesetzgeber seine Normsetzungskompetenz (Aufhebung und Änderung von Gesetzen) einbüßt, insoweit völkerrechtlich bindende Vertragsinhalte bzw. abkommensrechtliche Regelungskreise betroffen werden. Nach der Rechtsauffassung des BFH wirken DBA damit als unmittelbar bindendes Gebot und zugleich als materiell-rechtliche "Sperre". Ein Bruch des Völkervertragsrechts aufgrund anderer innerstaatlicher Rechtsvorschriften sei nur dann zulässig, wenn hierdurch ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abgewendet wird.[6] Die vorstehende Argumentation des BFH sollte auch für das in § 50 i Abs. 1 Satz 1 angelegte Treaty Override gelten (insb. in Fällen einer tatsächlichen Doppelbesteuerungssituation).[7]

Das BVerfG ist der Auffassung des BFH hinsichtlich des Vorlagebeschlusses zu § 50 d Abs. 8 EStG nicht gefolgt. In seinem Beschluss v. 15.12.2015[8] bringt das BVerfG zum Ausdruck, das Art. 59 Abs. 2 GG die Geltung des lex-posterior-Grundsatzes für völkerrechtliche Verträge nicht einschränke. Vielmehr müssten spätere Gesetzgeber innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen in der Lage sein, Rechtsetzungsakte (hier: DBA-Abschluss) früherer Gesetzgeber revidieren zu können. Die Verfassungswidrigkeit völkerrechtswidriger Gesetze lasse sich nicht unter Rückgriff auf den ungeschriebenen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes begründen. Dieser Grundsatz habe zwar Verfassungsrang, beinhalte jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen. Ferner könne aus dem Rechtsstaatsprinzip weder ein (begrenzter) Vorrang des Völkervertragsrechts vor dem (einfachen) Gesetz noch eine Einschränkung des lex-posterior-Grundsatzes abgeleitet werden. Fraglich ist, ob die vorstehenden Entscheidungsgrundsätze auch auf andere Treaty Overrides übertragbar sind, die nicht allein die Verhinderung einer Keinmalbesteuerung zum Ziel haben[9], sondern – wie bspw. § 50 i Abs. 1 – das deutsche Besteuerungssubstrat unter Inkaufnahme einer Doppelbesteuerungssituation sichern sollen. Über die weiteren Vorlagebeschlüsse zu § 50 d Abs. 9 EStG und zu § 50 d Abs. 10 EStG hat das BVerfG bislang noch nicht entschieden; es bleibt abzuwarten, ob die vorstehenden Entscheidungsgrundsätze auch hinsichtlich dieser Normen bestätigt werden.[10] Sollte dies der Fall sein, ist jedoch davon auszugehen, dass auch das in § 50 i Abs. 1 geschriebene Treaty Override wohl verfassungsrechtlich zulässig ist.

 

Rz. 15

[Autor/Stand] Rechtfertigung des Treaty Override. Ungeachtet dessen hält der Gesetzgeber eine Überschreibung der DBA durch § 50 i für gerechtfertigt. Als (nachvollziehbare) Begründung wird hierfür angegeben, dass der deutsche Fiskus im Zeitpunkt des Wegzugs ins Ausland, einer Umstrukturierung oder Überführung von Wirtschaftsgütern bzw. Anteilen auf der Grundlage des bisherigen Rechtsverständnisses der Finanzverwaltung auf eine Besteuerung "verzichtet" hat.[12]

[Autor/Stand] Autor: Liekenbrock, Stand: 01.10.2017
[2] Gosch in Kirchhof16, § 50 i EStG Rz. 2; Pohl in Blümich, § 50 i EStG Rz. 6 (Stand: April 2017). Zur Bestandsaufnahme von und rechtlichen Kritik an Treaty Overrides Gosch, IStR 2008, 413; Schwenke, FR 2012, 443; Lehner, IStR 2012, 389.
[5] Dieser Grundsatz gehört gewohnheitsrechtlich zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, der im Wiener Übereinkommen v. 23.5.1969 über das Recht der Verträge (WÜRV) kodifiziert ist, vgl. Art. 26 f. WÜRV, BGBl. II 1985, 927.
[7] Mit Verweis auf die Ausführunge...

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