I. Grundaussagen (Abs. 1)
1. Tatbestand (Satz 1)
Rz. 41
Überblick. Der in Satz 1 normierte Tatbestand der erweitert beschränkten Steuerpflicht lässt sich in vier Tatbestandsmerkmale unterteilen, die in einem bestimmten chronologischen Verhältnis zueinanderstehen. Die wichtige Zäsur bildet der Wegzug, das Ende der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht. Diesem Wegzug geht das Erfordernis voraus, dass die Person während mindestens fünf Jahren innerhalb des vorausgehenden Zehnjahreszeitraums unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war (retrospektives Tatbestandsmerkmal). Hinzu treten zwei Tatbestandsmerkmale, welche die Zeit nach dem Wegzug in den Blick nehmen (prospektive Tatbestandsmerkmale): die Ansässigkeit der Person in einem niedrig besteuernden Gebiet oder die fehlende Ansässigkeit einerseits, die wesentlichen wirtschaftlichen Inlandsinteressen andererseits.
„(1) [1] Eine natürliche Person ...”
Rz. 42
Natürliche Personen, Juristische Personen, Ehegatten. § 2 betrifft nur natürliche Personen. Bei Ehegatten müssen die Voraussetzungen bei jedem Stpfl. individuell erfüllt sein. Die Beschränkung des Tatbestands auf natürliche Personen erklärt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte. Als das AStG geschaffen wurde, galt noch weitgehend unangefochten der Rechtssatz, dass die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes (und erst recht die Verlegung des Registersitzes) ins Ausland zu einer Auflösung der Gesellschaft führt. Ein "Auswandern" der Gesellschaft bedeutete somit zwingend Liquidation und Neugründung, so dass die "ausgewanderte" Gesellschaft mit der vormals inländischen Gesellschaft nicht identisch war. Dies hat sich unter dem Einfluss der Rspr. des EuGH einerseits und durch Inkrafttreten des MoMiG andererseits (auch gegenüber Drittstaaten) grundlegend gewandelt. Selbst die Verlegung des Registersitzes ins Ausland erscheint zwischenzeitlich identitätswahrend möglich zu sein. Es gibt gleichwohl keinen Anlass, § 2 auf wegziehende Gesellschaften auszudehnen. Personengesellschaften sind keine Einkommensteuersubjekte, so dass ihr "Wegzug" die persönliche Einkünftezurechnung unberührt lässt. Eine Gleichstellung von Körperschaften ist nicht geboten, weil die von § 2 zur Voraussetzung erhobene besondere Bindung des Stpfl. an Deutschland aufgrund von langjähriger Ansässigkeit und Nationalität auf die Situation der Körperschaft nicht übertragbar ist. Eine Körperschaft kennt nämlich keine Nationalität jenseits ihres (Satzungs- und/oder Verwaltungs-)Sitzes. Angesichts des fragwürdigen Zwecks der Vorschrift (vgl. Rz. 13) darf der persönliche Anwendungsbereich keinesfalls erweitert werden.
"..., die in den letzten zehn Jahren vor dem Ende ihrer unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes ..."
Rz. 43
Verhältnis zu § 1 Abs. 1 EStG. Die Steuerpflicht nach § 2 trifft nur Personen, deren unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geendet hat. Wer im Inland Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann nicht erweitert beschränkt steuerpflichtig sein. Bei Ehegatten ist daher die widerlegbare Vermutung zu beachten, dass bei nicht dauerndem Getrenntleben der Eheleute der Ehegatte (auch) einen Wohnsitz bei der Familie hat.
Rz. 44
Wegzug als maßgeblicher Zeitpunkt. Das Ende der unbeschränkten Steuerpflicht gem. § 1 Abs. 1 EStG (Aufgabe des Wohnsitzes und/oder gewöhnlichen Aufenthaltes) bildet für die Anwendung des § 2 die zentrale Zäsur. Sie determiniert sowohl den retrograden Zeitraum von zehn Jahren, innerhalb dessen die persönliche Bindung ("unbeschränkte Steuerpflicht innerhalb von mindestens fünf Jahren als Deutscher") bestanden haben muss (vgl. dazu unter Rz. 48–52) als auch den Beginn des Zehnjahreszeitraums, während dessen erweitert beschränkte Steuerpflicht besteht bzw. bestehen kann (dazu unter Rz. 71). Zieht ein Stpfl. im Laufe seines Lebens mehrmals aus Deutschland weg, ist jeder Wegzug separat daraufhin zu untersuchen, ob die Voraussetzungen des § 2 nach den jeweils maßgeblichen Verhältnissen erfüllt sind. Die Gründe, die die Person ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt haben aufgeben lassen, sind unbeachtlich. Der Zweck der Vorschrift, Steuerflucht zu bekämpfen, wird daher wenig zielgenau verfolgt. Angesichts der expliziten gesetzlichen Anweisung kann auch derjenige der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht unterliegen, der ausschließlich aus privaten Gründen (z.B. Heirat) oder beruflichen Motiven in ein Land zieht, dessen Fiskus sich bei der Besteuerung größere Zurückhaltung auferlegt als der deutsche (zu Billigkeitsmaßnahmen vgl. Rz. 89).
Rz. 45
Beendigung einer früheren unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 oder Abs. 3 EStG. § 2 Abs. 1 setzt explizit das "Ende der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG " voraus. Das Ende einer unbeschränkten Steuerpflicht, welche auf anderen Vorschriften, insbesondere auf § 1 Abs. 2 EStG, beruhte, genügt daher nicht.