Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
a) Grundregelung (Halbs. 1)
„ [2] Zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes ist eine Betriebsstätte wie ein eigenständiges und unabhängiges Unternehmen zu behandeln, ...”
Rz. 2881
Behandlung der Betriebsstätte wie ein eigenständiges und unabhängiges Unternehmen. § 1 Abs. 5 Satz 2 enthält die allgemeine innerstaatliche Umsetzung des AOA, die in den Sätzen 3 ff. genauer konkretisiert wird. Demnach ist der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes die Fiktion zugrunde zu legen, dass die Betriebsstätte ein eigenständiges und unabhängiges Unternehmen ist. Inwieweit eine solche Fiktion mit dem allgemeinen Fremdvergleichsgrundsatz zu vereinbaren ist, bleibt indes fraglich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Vorliegen einer Betriebsstätte an sehr niedrige Schwellen geknüpft ist und in vielen Fällen z.B. eine "eigene" Willensbildung der Betriebsstätte kaum vorstellbar ist. Das OECD-MA trägt diesem Gedanken dahingehend Rechnung, dass Geschäftseinrichtungen, die lediglich "Hilfstätigkeiten" gegenüber dem übrigen Unternehmen ausführen, keine Betriebsstätte darstellen und damit keinen Besteuerungsanspruch des Betriebsstättenstaats begründen können (Art. 5 Abs. 4 Buchst. e OECD-MA, Rz. 2823).
Die Fiktion der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Betriebsstätte erfordert zunächst eine fiktive Aufspaltung des einheitlichen Gesamtunternehmens in Betriebsstätte und übriges Unternehmen. Hierzu enthalten § 1 Abs. 5 Sätze 3 ff. sowie die BsGaV konkrete Vorschriften hinsichtlich der Zuordnung der einzelnen Wirtschaftsgüter, sonstigen Vorteilen, Verbindlichkeiten usw. (Rz. 2884, 3011 ff.). Auf dieser Grundlage kann schließlich die Identifizierung der Innentransaktionen zwischen der Betriebsstätte und dem übrigen Unternehmen erfolgen (Rz. 2885 f.).
Rz. 2882
Zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes. Der Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 Satz 2 ist unklar definiert. Die Behandlung der Betriebsstätte als eigenständiges und unabhängiges Unternehmen wird vorgeschrieben "zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes". Daher ist fraglich, ob die Eigenständigkeits- und Unabhängigkeitsfiktion der Betriebsstätte lediglich im Hinblick auf Korrekturen nach § 1 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 angewendet werden soll oder aber einen allgemeinen Grundsatz der betriebsstättenbezogenen Gewinnermittlung/-abgrenzung darstellt (Rz. 2812), m.a.W. also selbständig neben § 1 Abs. 5 Satz 1 steht. Der Wortlaut deutet auf Letzteres hin, da Satz 2 insbesondere auch keinen Verweis auf Satz 1 enthält. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass – anders als im Fall rechtlich selbständiger Unternehmen – das Verhältnis zwischen unselbständigen Teilen desselben Unternehmens nicht durch zivilrechtlich bindende Verträge geregelt werden kann, womit kein eindeutiger, dem entgegenstehender Maßstab für die originäre betriebsstättenbezogene Gewinnzuordnung innerhalb der Steuerbilanz besteht. Demgegenüber sieht der BFH im Beschluss vom 24.11.2021 mit dem Verweis auf die systematische Einbettung in das AStG keine "Ausstrahlwirkung" auf die allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften (s. Rz. 2812.1).
b) Ausnahme (Halbs. 2)
"... es sei denn, die Zugehörigkeit der Betriebsstätte zum Unternehmen erfordert eine andere Behandlung."
Rz. 2883
Ausnahmeregelung. Gemäß § 1 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 ist von der grundsätzlich geltenden Eigenständigkeits- und Unabhängigkeitsfiktion abzusehen, wenn "die Zugehörigkeit der Betriebsstätte zum Unternehmen [...] eine andere Behandlung" erfordert. Was dies konkret bedeutet, bleibt unklar. Die Ausnahmeregelung bezweckt wohl zu verhindern, dass die Gewinnabgrenzungsregeln schematisch auch auf solche Fälle angewendet werden, die der Eigenständigkeits- und Unabhängigkeitsfiktion des § 1 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 nicht zugänglich sind. Die Rechtsnatur einer Betriebsstätte als unselbständiger Teil eines Unternehmens ist daher im Rahmen der Gewinnabgrenzung nicht vollständig zu vernachlässigen. Vielmehr muss die tatsächliche Eignung der Betriebsstätte hinsichtlich ihrer möglichen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom übrigen Unternehmen berücksichtigt werden. Da das Merkmal der Erforderlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 jedoch unbestimmt bleibt, wirft dies die Frage auf, auf welche Kriterien konkret abzustellen ist und wie diese Berücksichtigung im Einzelnen erfolgen soll. Es existieren viele Formen und Abstufungen der Selbständigkeit und Unabhängigkeit einzelner Unternehmensteile. So können Betriebsstätten z.B. nur unterstützend einzelne Funktionen ausüben oder aber als "Unternehmen im Unternehmen" geführt werden (z.B. Profit-Center-Struktur).
Unklar ist, ob die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 ggf. die Selbständigkeits- und Unabhängigkeitsfiktion des § 1 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 – und damit die Anwendung des AOA – vollständig suspendieren kann oder diese lediglich im Hinblick z.B. auf einzelne Positionen einschränkt. Letzteres wird in § 1 Abs. 5 Satz 3 sowie d...