Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 55
Sachverhalt in der Rechtssache C-885/19 P (Fiat). Fiat Finance and Trade (nachfolgend: FFT) ist ein in Luxemburg ansässiges Unternehmen der Fiat/Chrysler-Automobilgruppe, das anderen Unternehmen dieser Gruppe Finanzierungen zur Verfügung stellt. Das Unternehmen erhielt von der luxemburgischen Steuerverwaltung im Jahr 2012 einen Steuervorbescheid, in dem eine bestimmte Berechnungsmethode gebilligt wurde, anhand der die Gesamtvergütung für die Finanzdienstleistungstätigkeiten von FFT ermittelt werden sollte. Die Kommission sah in diesem Steuervorbescheid eine unzulässige Beihilfe, da die steuerpflichtigen Einkünfte von FFT mit dieser Methode zu niedrig ermittelt würden. Dabei argumentierte sie, dass Verrechnungspreise, die nicht denen entsprechen, die von unabhängigen Unternehmen unter vergleichbaren Umständen vereinbart werden und somit unter freien Wettbewerbsbedingungen zustande kommen, dem betreffenden Unternehmen einen Vorteil verschaffe. Im Ergebnis vertrat die Kommission die Auffassung, dass der Fremdvergleichsgrundsatz notwendigerweise ein fester Bestandteil bei der Prüfung von steuerlichen Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 1 AEUV sei, und zwar unabhängig davon, ob ein Mitgliedstaat diesen Grundsatz in seinem nationalen Rechtssystem verankert habe. Ob der Steuerbescheid mit den nationalen Regeln zum Fremdvergleichsgrundsatz (Art. 163 L-EStG sowie ein ergänzendes Verwaltungsschreiben) im Einklang steht, hat die Kommission nicht bzw. nur hilfsweise geprüft. Von diesem Fremdvergleichsgrundsatz, wie er in Art. 107 AEUV angelegt sei, werde mit dem erteilten Steuervorbescheid zugunsten von FFT abgewichen, womit letztlich eine Beihilfe gewährt würde. Dieses Vorgehen wurde im Ergebnis durch das EuG gebilligt.
Rz. 55.1
Entscheidung des EuGH. Der EuGH betonte in seiner Entscheidung v. 8.11.2022 zunächst, dass die Bestimmung des Bezugsrahmens bei der Prüfung steuerlicher Maßnahmen eine besondere Bedeutung zukomme, da das Vorliegen eines Vorteils nur in Bezug auf eine sog. "normale" Besteuerung festgestellt werden kann. Infolgedessen hänge auch die Bestimmung der Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Situation befinden, von der vorherigen Definition der Normalbestimmung ab. Da die Bestimmung der Normalbesteuerung den Ausgangspunkt für die Vergleichsprüfung darstellt, führe ein Fehler bei der Bestimmung der Normalbesteuerung zwangsläufig dazu, dass die gesamte Selektivitätsprüfung mit einem Mangel behaftet sei. Darüber hinaus sei es in Bereichen, in denen das Steuerrecht nicht harmonisiert ist, der Mitgliedstaat, der die Normalbesteuerung Kraft seiner Steuerautonomie bestimme, sodass bei der Bestimmung der Normalbesteuerung nur das in dem betreffenden Mitgliedstaat anwendbare Recht zu berücksichtigen sei. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Erwägungen stellt der EuGH sodann fest, dass die Kommission bei ihrer Prüfung einen anderen Fremdvergleichsgrundsatz angewendet hat als derjenige, der im luxemburgischen Recht festgelegt sei. Zwar ziele auch das luxemburgische Recht zur Bestimmung von Verrechnungspreisen darauf ab, zu einer verlässlichen Annäherung an den Marktpreis zu gelangen, doch müssten stets die konkreten Modalitäten der Anwendung des in der nationalen Rechtsordnung angelegten Fremdvergleichsgrundsatzes berücksichtigt werden. Darüber hinaus sei die Kommission beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung nicht befugt, eigenständig die sog. Normalbesteuerung festzulegen, da sie sich anderenfalls über Art. 114 Abs. 2, Art. 115 AEUV hinwegsetze und in die Steuerautonomie des jeweiligen Mitgliedstaats eingreife. Obwohl sich die OECD-Mitgliedstaaten auf eine bestimmte Interpretation des Fremdvergleichsgrundsatzes geeinigt hätten, bestünden zwischen den Staaten gleichwohl erhebliche Unterschiede bei den Verrechnungspreismethoden. Selbst wenn demnach international ein gewisser Konsens insoweit bestehe, dass Transaktionen zwischen Konzernunternehmen so zu beurteilen sind, als ob sie zwischen unabhängigen Unternehmen stattgefunden hätten, und sich daher zahlreiche nationale Behörden an den OECD-Regeln orientieren, sind gleichwohl nur die nationalen Bestimmungen relevant, wenn steuerliche Maßnahmen auf ihre Beihilfenkonformität hin zu prüfen sind. Dies sei Ausdruck des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung. Im Übrigen ergebe sich auch aus dem Urteil in der Rs. C-182/03 (Belgien und Forum 187/Kommission), mit dem die Kommission argumentierte, nichts anderes, da sich aus diesem Urteil nicht ableiten lässt, dass der EuGH einen eigenständigen Fremdvergleichsgrundsatz habe aufstellen wollen, der im Rahmen der Beihilfenprüfung unabhängig vom nationalen Recht gilt. Im Ergebnis hat der EuGH das Urteil der Vorinstanz damit aufgehoben und den Beschluss der Kommission für nichtig erklärt. Der Ausgang der noch anhängigen Verfahren und die sich daraus entwickelnden Grundsätze bleiben noch weiter abzuwarten.