Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 53
Kontrolle durch die Unionsgerichte. Die Urteile, mit denen das EuG in erster Instanz über die Fremdüblichkeit von Verrechnungspreisen im Kontext der Beihilfenkontrolle zu entscheiden hatte, umfassen teils über 100 Seiten und über 500 Rz., was die Komplexität der Materie bereits erahnen lässt. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Unionsgerichte der Kommission bei der Beurteilung von technischen und komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten bisweilen einen großen Beurteilungsspielraum zugestehen und nur eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle ausüben. Da die Ermittlung von Verrechnungspreisen eine starke ökonomische Prägung aufweist und die Verrechnungspreispraxis auch durchaus komplex ist, wäre es denkbar gewesen, dass die in Rede stehenden Verrechnungspreisfälle in diese Kategorie fallen. Die Lektüre der bisherigen EuG-Urteile zeigt jedoch, dass das Gericht eine ausführliche Prüfung vorgenommen hat und die Kommission insoweit unter voller gerichtlicher Kontrolle steht.
Rz. 53.1
Fremdvergleichsgrundsatz als Maßstab der Normalbesteuerung. Das Vorliegen einer Beihilfe verlangt die Feststellung, dass dem Steuerpflichtigen ein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wurde. Zur Feststellung, ob dem Steuerpflichtigen ein solcher Vorteil gewährt wurde, ist die Situation des Steuerpflichtigen unter Anwendung des betreffenden Steuervorbescheids mit jener Situation zu vergleichen, die gelten würde, wenn dieser Steuervorbescheid nicht existieren würde. Die Situation, die gelten würde, wenn der Steuervorbescheid nicht gewährt worden wäre, ist die Normalbesteuerung (Bezugssystem), die sich aus den systemtragen Prinzipien eines breiteren Regelungskontextes (i.d.R. einer Steuerart) ableitet und die es folglich zu ermittelt gilt. In diesem Zusammenhang vertritt die Kommission die Auffassung, dass der Fremdvergleichsgrundsatz bereits in Art. 107 Abs. 1 AEUV angelegt und daher unabhängig davon zu beachten sei, ob er im nationalen Recht tatsächlich verankert ist oder nicht. Die Kommission orientiert sich bei der Definition der Normalbesteuerung ausdrücklich nicht am Fremdvergleichsgrundsatz i.S.d. Art. 9 OECD-MA oder am Fremdvergleichsgrundsatz, wie er in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung möglicherweise niedergelegt ist, sondern – so erweckt es den Eindruck – an einem Fremdvergleichsgrundsatz sui generis, der Art. 107 Abs. 1 AEUV unmittelbar inhärent ist. Diese Auffassung hat in der Literatur ein (zurecht) Störgefühl hervorgerufen, das sich vor allem darauf bezieht, dass die Kommission den Fremdvergleichsgrundsatz zu einer Art Naturgesetz des Ertragssteuerrechts erhebt und die OECD-Leitlinien, die zur Auslegung des Fremdvergleichsgrundsatzes herangezogen werden, zum Maßstab werden, obwohl es sich dabei nur um rechtlich unverbindliches soft law handelt. Dabei war die bisherige Auffassung diejenige, dass es einen unionsweit einheitlichen Maßstab, an dem die Regelungen aller Mitgliedstaaten gemessen werden, nicht gibt und als Normalbesteuerung daher nicht in Betracht kommt, zumal eine unionsweit einheitliche Normalbesteuerung im Bereich der direkten Steuern auch im Widerstreit zur mitgliedstaatlichen Steuersouveränität stehen würde. Die zu bestimmende Normalbesteuerung muss demnach eine Regelung oder ein Regelungskomplex aus dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats sein, d.h., der weitest mögliche Rahmen der Normalbesteuerung ist das gesamte Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaats. Dies kommt auch in der Rechtsprechung zum Ausdruck. So formulierte das EuG in seinem Urteil in der Rechtssache Salzgitter/Kommission bereits, dass "im Hinblick auf die Bestimmung, was eine ‚normale‘ Steuerbelastung [...] darstellt, ein Vergleich mit den steuerrechtlichen Vorschriften aller Mitgliedstaaten oder auch nur mit einigen wenigen von ihnen den Zweck der Vorschriften über die Beihilfeaufsicht verkennen [würde]." Können die Vorschriften anderer Mitgliedstaaten nicht maßgebend sein, sollten für die nationale Normalbesteuerung auch supranationale oder internationale Vorgaben, die nicht Teil des nationalen Rechts geworden sind, nicht generell maßgebend sein. Maßgebend ist vielmehr das jeweilige mitgliedstaatliche Steuersystem, das die Kommission und die Unionsgerichte zur Definition der Normalbesteuerung zu analysieren haben. Im Übrigen kann auch bezweifelt werden, ob es sinnvoll ist, ein besonderes EU-Arm's-Length-Prinzip zu etablieren, das neben den international anerkannten Grundsätzen der OECD besteht und dessen Maßstäbe unklar sind. Im Ergebnis wurde die Sicht der Kommission aber durch das EuG bestätigt. Sofern das Recht des betreffenden Mitgliedstaats keine offensichtliche Unterscheidung zwischen verbundenen und unverbundenen Unternehmen trifft, sei auch nach Ansicht des EuG davon auszugehen, dass die Normalbesteuerung auf dem Gedanken fußt, dass unabhängige Unternehmen ihre Geschäfte unter Marktbedingungen abschließen und mit dem so erwirtschafteten Gewinn besteuert wer...