Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 141
"Fiktive Unabhängigkeit" als Hilfsmaßstab. Durch die Verwendung des Konjunktivs in der Formulierung "die voneinander unabhängige Dritte unter gleichen oder vergleichbaren Verhältnissen vereinbart hätten" gibt der Gesetzgeber in § 1 Abs. 1 einen Hinweis darauf, dass bei einem Fremdvergleich nicht nur die unter vergleichbaren Verhältnissen zustande gekommenen Preise zwischen tatsächlich unabhängigen Unternehmen als Vergleichsmaßstäbe verwendet werden dürfen, sondern dass im Fall des Nicht-Vorhandenseins von vergleichbaren Geschäften zwischen tatsächlich Unabhängigen dafür ersatzweise auch eine fiktive Unabhängigkeit zugrunde gelegt werden kann. Das setzt jedoch voraus, dass Klarheit darüber besteht, auf welche Unternehmensbereiche und in welchem Ausmaß der Hilfsmaßstab der "fiktiven Unabhängigkeit" anzuwenden ist.
Rz. 142
Konkretisierung durch Eliminierung aktiver und passiver Konzerneffekte. Eine Möglichkeit besteht darin, unter einem fiktiv unabhängigen Unternehmen ein völlig aus der Konzernstruktur herausgelöstes Unternehmen zu verstehen. Um den "effektiven" Gewinn dieses fiktiv selbständigen Unternehmens ermitteln zu können, müssen alle gewinnrelevanten Einflüsse, die auf die Konzernzugehörigkeit bzw. Zugehörigkeit zum Unternehmensverbund zurückzuführen sind, als nicht erwünschte Gewinnmanipulationen eliminiert werden. Dazu gehören sowohl passive als auch aktive Konzerneffekte. Zu den passiven Konzerneffekten zählt man solche Vorteile, die allein aus der Konzernzugehörigkeit bzw. Zugehörigkeit zum Unternehmensverbund resultieren und sich beispielsweise in erhöhter Kreditwürdigkeit, verbilligter Einkaufsmöglichkeit, Risikostreuung und verbesserten Absatzmöglichkeiten niederschlagen. Als aktive Konzerneffekte bezeichnet man alle Eingriffe der Spitzeneinheit in den Betriebsablauf der Einzelgesellschaften, wie Entscheidungen über die künftige Absatz-, Beschaffungs-, Produktions-, Investitions-, Finanz-, Forschungs- und Entwicklungs-, Personal- und Sozialpolitik oder gar über Betriebsstilllegungen. Die Durchführung einer so verstandenen Einkünfteabgrenzung erfordert die völlige gedankliche Ausgliederung des einzelnen Unternehmens aus der wirtschaftlichen Einheit "Gesamtunternehmen". Der Besteuerung wird damit – abweichend von der wirtschaftlichen Realität – ein fiktiver Erfolg zugrunde gelegt, den einzelne Unternehmen zwar bei Verfolgung der eigenen Zielvorstellung erzielt hätten, aber aufgrund der Konzernzugehörigkeit bzw. Zugehörigkeit zum Unternehmensverbund und der dispositiven Eingriffe der Muttergesellschaft nicht erzielt haben. Diese Betrachtungsweise widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Gestalt des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, da als Steuerbemessungsgrundlage hierbei kein tatsächlich erzieltes Ergebnis dient, sondern eine vom tatsächlichen Einkommen regelmäßig abweichende fiktive Größe. Letztlich führt die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes zwar immer zu einer Sollgewinnbesteuerung, indem der tatsächlich ermittelte Gewinn mit einem Sollgewinn verglichen wird, den der Steuerpflichtige erzielt hätte, wenn die von ihm mit nahestehenden Personen getroffenen Vereinbarungen dem Fremdvergleich entsprechen würden. Der Fremdvergleichsgrundsatz soll allerdings lediglich Gewinnverlagerungen vermeiden und nicht etwa dazu führen, dass fiktive Tatbestände zur Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage herangezogen werden. Der BFH spricht konsequenterweise auch nur von einem "partiellen" Sollgewinn, der durch den Fremdvergleich besteuert wird: "Der partielle Sollgewinn ist derjenige, den sie erzielt hätten, wenn keine Gewinnverlagerung zugunsten des Gesellschafters stattgefunden hätte."
Rz. 143
Verlagerungsneutrale Verrechnungspreise. Eine andere Möglichkeit der Konkretisierung der Unabhängigkeitsfiktion des Fremdvergleichs geht von der Erkenntnis aus, dass der Gesamtgewinn des Unternehmensverbundes auf das Zusammenwirken aller Einzelgesellschaften zurückzuführen ist, zu dem diese – entsprechend ihrem Anteil an Leistungserstellung und -verwertung – ihren Beitrag, den sog. Gliedgewinn, leisten. Dabei sollen nicht die auf die Konzernverbundenheit zurückzuführenden Einflüsse der Gewinnentstehung eliminiert werden, sondern nur solche Eingriffe, die den Gewinnausweis manipulieren, m.a.W. durch die "Verschiebungen zwischen den Gewinnen der Gliedunternehmen bewirkt werden". Solche buchtechnischen Gewinnverschiebungen, die zwar den jeweiligen Gewinn des einzelnen Gliedunternehmens verfälschen, sich jedoch nicht auf den Gewinn des Gesamtunternehmens auswirken, werden insbesondere hervorgerufen durch den Ansatz unangemessener Verrechnungspreise für den konzerninternen Liefer- und Leistungsaustausch. Die Folge einer solchen Verrechnungspreispolitik besteht darin, dass ein Gewinn nicht bei derjenigen Unternehmenseinheit ausgewiesen wird, die ihn tatsächlich erwirtschaftet hat. Geht man davon aus, dass ents...