Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 147
Die Einführung des Anrechnungsverfahrens hatte ursprünglich nichts am Verständnis und am Begriff der verdeckten Gewinnausschüttung geändert. Die verdeckte Gewinnausschüttung wurde als ein einheitliches Institut behandelt, das nach § 8 Abs. 3 zur Erhöhung des Einkommens führt, nach §§ 27ff. am Anrechnungsverfahren teilnimmt und nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 2 EStG zu Einkünften aus Kapitalvermögen führt. Von dieser "einheitlichen" Auffassung der verdeckten Gewinnausschüttung ist der BFH, ausgehend von der in den §§ 27ff. vorgenommenen Begriffsbildung, abgegangen, indem er drei verschiedene Begriffe verwendet:
Rz. 148
Diese neue Begriffsbildung des BFH hat den Vorteil, dass sie den Blick insbesondere für die Notwendigkeiten des Anrechnungsverfahrens schärft und, was bei der bisherigen Beschäftigung der Praxis mit dem Anrechnungsverfahren nicht selbstverständlich war, vom Gesetzestext als der maßgeblichen Grundlage der Gesetzesanwendung ausgeht. Zu kritisieren ist die Rechtsprechung aber, wenn sie drei Begriffe, die als unabhängig voneinander verstanden werden, annimmt. Vor allen Dingen verdeckt diese Rechtsprechung, dass es sich um die Beurteilung eines einheitlichen Sachverhaltes handelt. Die verdeckte Gewinnausschüttung als Lebenstatbestand entfaltet ihre Wirkungen bei der Einkommensermittlung, im Anrechnungsverfahren und auf der Ebene der Anteilseigner. Da ein einheitlicher Geschehensablauf vorliegt, gibt es auch nur einen einheitlichen Typus der verdeckten Gewinnausschüttung (so überzeugend Maas, StVj 1990, 42, 45; vgl. auch Anh. vGA zu § 8, Rz. 24ff.). Wenn das aber so ist, ist es systematisch bedenklich, einen einheitlichen Typus in der Begriffsbildung aufzuspalten.
Hinzu kommt, dass das Anrechnungsverfahren weder zu einer solchen Begriffsbildung zwingt, noch es überhaupt richtig ist, dass das Anrechnungsverfahren die vom BFH vorgenommene Unterscheidung so macht, wie der BFH es annimmt. Richtig ist, und das erkannt zu haben ist das Verdienst der Rechtsprechung des BFH, dass das Anrechnungsverfahren die Gesamtheit der möglichen Vermögensbewegungen von der Anrechnungskörperschaft zu den Anteilsinhabern (Ausschüttungen, Auskehrungen usw.) unter andere Oberbegriffe einordnet als § 8 Abs. 3 KStG oder § 20 Abs. 1 EStG. Daraus kann aber nicht auf eine unterschiedliche Begriffsbildung gefolgert werden; was geschieht, ist lediglich, dass das Anrechnungsverfahren die Sachverhalte und die daraus abgeleiteten Begriffe nach seinen Erfordernissen "umsortiert". Das Anrechnungsverfahren verändert also nicht die Begriffe, sondern fasst sie nur nach seinen Erfordernissen in unterschiedliche Gruppen zusammen. Hinzu kommt, dass diese Gruppenbildung im Anrechnungsverfahren selbst nicht einheitlich ist, sondern dass innerhalb des Anrechnungsverfahrens unterschiedliche Gruppen gebildet werden, je nachdem, welche Fragestellung verfolgt wird. Wird nach dem sachlichen Umfang des Anrechnungsverfahrens gefragt ("welche Leistungen unterliegen dem Anrechnungsverfahren?"), werden die Leistungen unter die Oberbegriffe "Gewinnausschüttung" (einschließlich verdeckter Gewinnausschüttung) nach § 27 Abs. 1 und "sonstige Leistungen" nach § 41 zusammengefasst. Diese Begriffsbildung ignoriert die Rechtsprechung des BFH völlig. Nur wenn nach zeitlichen Zuordnungen gefragt wird ("welchem Veranlagungszeitraum ist die Körperschaftsteueränderung zuzuordnen und gegen welches Eigenkapital — in zeitlicher Hinsicht — ist die Ausschüttung zu verrechnen?") ordnet das Gesetz in § 27 Abs. 3, § 28 Abs. 2 die möglichen Leistungen unter die Oberbegriffe "bestimmte offene Gewinnausschüttungen" und "andere Ausschüttungen" ein (vgl. grundlegend Rz. 128ff.).
Rz. 149
Das Gesetz verzichtet im Anrechnungsverfahren also nicht auf den Begriff der "verdeckten Gewinnausschüttung", sondern ordnet ihn lediglich unter einem anderen Oberbegriff ein als § 8 Abs. 3 KStG oder § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Hieraus folgt, dass es auch im Anrechnungsverfahren "verdeckte Gewinnausschüttungen" gibt, dass sie aber, zusammen mit einer Vielzahl anderer Leistungen, "andere Ausschüttungen" i.S.d. § 27 Abs. 3 S. 2, § 28 Abs. 2 S. 2 sind. Das dürfte unbestritten sein; andererseits lassen sich weitergehende Folgerungen für die Begriffsbildung hieraus nicht ableiten.
Rz. 150
Hieraus ist zu folgern, dass es nur einen einheitlichen Begriff der verdeckten Gewinnausschüttung gibt (zum Begriff vgl. Anh. vGA zu § 8, Rz. 33ff.), der im Anrechnungsverfahren nach § 27 Abs. 1 unter den Oberbegriff "Gewinnausschüttungen", nach § 27 Abs. 3 S. 2, § 28 Abs. 2 S. 2 unter den Oberbegriff "andere Ausschüttungen" und nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 2 EStG unter den Oberbegriff der "sonstigen Bezüge" eingeordnet wird.
Andererseits folgt aus der Einheitlichkeit des Begriffs nicht die Einheitlichkeit der Rechtsf...