Rz. 69

Art. 15 FRL eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, eine steuerneutrale Umwandlung zu versagen, wenn der hauptsächliche Beweggrund oder einer der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung ist; davon kann ausgegangen werden, wenn der Umwandlungsvorgang nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen, insbesondere der Umstrukturierung oder Rationalisierung, beruht.[1] Die Verfolgung steuerlicher Vorteile durch die Umwandlung führt allein noch nicht zum Missbrauch. Es muss hinzukommen, dass die Steuervermeidung etwaige vernünftige wirtschaftliche Gründe weit überwiegt. Ein vernünftiger wirtschaftlicher Grund kann die Verbesserung der Konzernstruktur und die Verringerung der Verwaltungskosten sein. Zu einem Missbrauch führt es jedoch, wenn die übertragende Gesellschaft jede wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben hat, nur noch Verluste ausweist und angesichts der Steuervorteile der Umwandlung der Kostenvorteil aus der Einsparung von Verwaltungskosten völlig nebensächlich ist.[2] Diese Missbrauchsklausel ist nicht direkt anwendbar (nicht "self executing"), sondern muss in nationales Gesetz umgesetzt werden. Ein Missbrauch kann danach bereits angenommen werden, wenn nur einer der wesentlichen Beweggründe der der Steuerumgehung oder -vermeidung ist; es braucht nicht der alleinige Grund zu sein.

 

Rz. 69a

Das UmwStG hat von der Möglichkeit einer allgemeinen Missbrauchsklausel keinen Gebrauch gemacht. Stattdessen enthalten § 6 Abs. 3 UmwStG, § 15 Abs. 2 S. 2, 3 UmwStG[3] und § 22 UmwStG für Einzelfälle Regelungen, die als Missbrauchsregelungen verstanden werden können. Gleiches gilt für § 2 Abs. 3 UmwStG. § 12 Abs. 3 Halbs. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 S. 2 UmwStG stellen indessen keine Vorschriften zur Verhinderung missbrauchsverdächtigter Mantelkaufgestaltungen dar.[4] Ob diese Regelungen jeweils durch Art. 15 FRL gerechtfertigt sind, ist durchaus zweifelhaft.

 

Rz. 70

Daneben ist § 42 AO anwendbar; nach dessen Abs. 2 wird diese Vorschrift als generelle Missbrauchsklausel nicht durch spezielle Missbrauchsklauseln ausgeschlossen. Daher sind Sachverhalte, die nicht unter die Tatbestände der §§ 6 Abs. 3, 15 Abs. 2 oder 22 UmwStG fallen, an § 42 AO zu messen. Dagegen sind die genannten Vorschriften für die in ihnen geregelten Sachverhalte als abschließende Sonderregelungen aufzufassen, neben denen für die Anwendung des § 42 AO kein Platz ist.[5] Ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten kann auf der Grundlage der "Gesamtplanrechtsprechung" z. B. vorliegen, wenn vor einer Umwandlung bestimmte Besteuerungsgrundlagen kurzfristig aus dem übertragenden Rechtsträger ausgegliedert werden, um die Teilbetriebseigenschaft nicht zu gefährden.[6]

 

Rz. 71

Soweit § 42 AO anwendbar ist, ist zur Konkretisierung der Vorschrift Art. 15 FRL heranzuziehen. Einer der hauptsächlichen Beweggründe für die Umwandlung muss daher in der Steuerhinterziehung oder -umgehung bestehen. "Steuerumgehung" ist dabei i. S. eines Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten zu verstehen; die Absicht, eine günstigere steuerliche Struktur zu schaffen, ist kein Missbrauch und fällt weder unter Art. 15 FRL noch unter § 42 AO. Für das Vorliegen der Absicht der Steuerumgehung (des Missbrauchs) trägt die Finanzverwaltung die objektive Beweislast. Von der in Art. 15 FRL vorgesehenen Möglichkeit, Vermutungsregelungen zu schaffen, hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 42 AO keinen Gebrauch gemacht. Zusätzlich müsste eine Bestimmung zur Vermeidung von Missbräuchen die Möglichkeit der Widerlegung durch den Stpfl. vorsehen. Eine unwiderlegbare Missbrauchsvermutung wäre europarechtswidrig.[7] Andererseits ist die Anwendung des § 42 AO ausgeschlossen, wenn ein (nicht der alleinige) Hauptgrund auf der Absicht der Umstrukturierung und Rationalisierung, z. B. der Vermeidung von Verwaltungskosten beruht. Dies wird bei einer Änderung der Unternehmensform regelmäßig vorliegen, sodass der Anwendungsbereich des § 42 AO bei Umwandlungen praktisch sehr beschränkt sein wird.

[1] Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL; Buchst. b und Abs. 2 betreffen die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, haben also steuerlich keine Relevanz.
[2] EuGH v. 10.11.2011, C-126/10 (Foggia), BFH/NV 2012, 154, ECLI:EU:C:2011:718.
[5] Jüngst zum Verhältnis von § 22 UmwStG und § 42 AO BFH v. 17.11.2020, I R 2/18, BStBl II 2021, 580, BFH/NV 2021, 1043; Trossen, Ubg 2021, 480, 480f.; Mosler/Münzner, FR 2021, 963, 966ff.; hierzu ebenso Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 20ff.; Jehke, DStR 2012, 677, 679; Link, DStJG 43 (2020), 391, 394ff.; Pohl, DStJG 43 (2020), 13, 27ff.; Hennrichs, DStJG 43 (2020), 145, 182.
[6] Grundsätzlich hierzu Jehke, DStR 2012, 677, 679 m. w. N.
[7] EuGH v. 25.10.2017, C-106/16 (Polbud), DStR 2017, 2684, ECLI:EU:C:2017:804, Rz. 63 m. w. N.

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