Rz. 38
Tatsächliche Gründe liegen in besonderen Zwangs- und Bedrohungslagen vor, die durch äußere Umstände beeinflusst sind (z. B. Naturkatastrophen, Krankheit, Erpressung etc.). Auch bei Vorliegen tatsächlicher Gründe ist erforderlich, dass der Stpfl. keine konkrete Willensbeeinflussung auf den tatsächlichen Grund gehabt haben durfte. Eine abstrakte Beeinflussung ist demgegenüber unschädlich. Beispielsweise ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Notwendige Krankheitskosten eines an Lungenkrebs erkrankten Stpfl. sind jedoch unter den weiteren Voraussetzungen auch dann als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig, wenn dieser ein Kettenraucher ist.
Der BFH scheint von einer Rangfolge auszugehen und die tatsächlichen Gründe vorrangig vor sittlichen Gründen zu prüfen. In dem sog. Lebensretter-Fall, in welchem der Stpfl. einem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Jugendlichen, der ihn vor dem Tod durch Ertrinken gerettet hatte, die Berufsausbildung finanzierte, ließ der erkennende Senat die Prüfung von sittlichen Gründen offen, da bereits tatsächliche Gründe für eine Zwangsläufigkeit sprechen würden.
In der Urteilsbegründung stellt das Gericht auf den Umstand ab, dass der Stpfl. den aus Italien stammenden Jugendlichen "aus seinem Lebenskreis herausgerissen hatte" und deshalb bereits aus tatsächlichen Gründen verpflichtet gewesen sei, die Kosten zu tragen. Dies überzeugt m. E. nicht, denn die Entscheidung zur Finanzierung der Ausbildung wurde vom Stpfl. – isoliert betrachtet – freiwillig getroffen, insbesondere nach Art der Umstände (so ist z. B. fraglich, ob nicht ggf. auch eine Finanzierung der Ausbildung in Italien denkbar gewesen wäre). Insoweit wäre eine sittliche Verpflichtung zu prüfen gewesen, denn ansonsten müssten tatsächliche Gründe immer dann vorliegen, wenn der Stpfl. – wie im vorliegenden Fall – ein hinreichend deutliches Versprechen abgibt. In übertragbaren Fällen würde dies jedoch sowohl Telos und Tatbestand der Norm als auch der Rspr. entgegenstehen. Die Entscheidung scheint indes im Einklang mit früherer Rspr. zu stehen, nach welcher der tatsächlichen Disposition des Stpfl. zu folgen ist und es den Behörden nicht zustehe, das Verhalten des Stpfl. zu kritisieren und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, denen dann eine rechtserhebliche Wirkung zukommt.
M. E. kann diesem Grundsatz jedoch nur insoweit zugestimmt werden, als der Stpfl. die konkrete Ausgestaltung des Umgangs mit dem für die Belastung ursächlichen Ereignis vornimmt (wie in den vorliegenden Fällen, Finanzierung der Ausbildung in Deutschland, Unterbringung des Kindes in einem Landschulheim). Davon unabhängig ist jedoch die Ursache zu sehen, aus der sich die Zwangsläufigkeit der entstandenen Kosten ergibt (z. B. Rettung vor dem Tod, Kindschaftsverhältnis). Folglich ist der Auffassung zuzustimmen, dass tatsächliche Gründe regelmäßig dann vorliegen, wenn der Stpfl. selbst betroffen ist. Lediglich bei Erpressungen, die Dritte betreffen (z. B. Lösegeldforderungen), können tatsächliche Gründe vorliegen, die zugleich eine andere Person als den Stpfl. betreffen. Dies schließt eine Anerkennung der Zwangsläufigkeit aufgrund einer sittlichen Verpflichtung nicht aus. Insoweit ist indes gesichert, dass lediglich der existenzielle Bereich des Stpfl. berücksichtigt wird.
Hierdurch ist m. E. auch der Konflikt aus der Frage nach der Entziehbarkeit des Stpfl. hinsichtlich des kausalen Ereignisses auflösbar. Abgesehen davon, dass in dem Fall des an Lungenkrebs erkrankten Kettenrauchers möglicherweise auch ein Ereignis vorhanden sein könnte, welches den Stpfl. zum Rauchen bewegt und nicht der freien Disposition unterliegt, würde ein Verzicht auf Heilungsmaßnahmen die Existenz des Stpfl. direkt bedrohen. Im beispielhaften Fall eines Pkw-Schadens im Urlaub wäre die Existenz bei dem Unterlassen der Zahlung von Reparaturaufwendungen hingegen regelmäßig nicht bedroht. Davon abgesehen ist m. E. bei dem derzeit stetig steigendem Verkehrsaufkommen bereits fraglich, ob bei einem Autounfall überhaupt ein außergewöhnliches Ereignis vorliegt.
In Bezug auf einen an Lungenkrebs erkrankten Stpfl. lässt sich die fehlende Außergewöhnlichkeit gerade nicht für die Mehrzahl der Stpfl. feststellen, zumal ein Vergleich nicht lediglich mit Rauchern zu erfolgen hat (kein Anknüpfen des Gesetzes an Tatbestandsmerkmale außerhalb von Einkommens- und Vermögensverhältnissen). Insoweit wäre es wünschenswert, wenn sich die Rspr. z. T. ergänzend zur tatrichterlichen Würdigung an quantitativen Merkmalen ausrichten würde und hierbei insbesondere auf Daten des Statistischen Bundesamtes zurückgreifen könnte.